Urbane Räume in der Kontrollgesellschaft
Sicherheit wird zunehmend zum weichen Standortfaktor der Städte
»Die Besessenheit, mit der physische Sicherheitssysteme errichtet und gleichzeitig durch Architektur soziale Trennungslinien durchgesetzt werden, ist zum Zeitgeist in der Umstrukturierung der Stadt geworden – zum zentralen Diskurs in der gesamten entstehenden gebauten Umwelt der 90er Jahre.«
Mike Davis, City of Quartz
In seinem Klassiker City of Quartz beschreibt Mike Davis Los Angeles als Metropole im dauerhaften Kriegszustand: permanente Satelliten-Überwachung, elektronische Türschlösser, Wohnviertel umgeben von elektronischen Mauern bis hin zu penibel abgeschotteten Obdachlosen-Slums. Die »Stadt der Engel« ist inzwischen aufgeteilt in eine lückenlose Kontrollmatrix. Dieser räumliche Kontrollwahn nimmt auch hier zu Lande immer deutlichere Konturen an. Die vielfältigen öffentlichen und privaten Inszenierungen zur Wiederherstellung einer angeblich verloren gegangenen »Sicherheit« verwandeln immer größere Bereiche der Stadt in Hochsicherheitszonen.
Im Mittelpunkt dieser Entwicklung steht ein ausgedehnter Sicherheitsdiskurs, der Anfang der 90er Jahre wieder verstärkt aufkam, und in dessen Folge »Sicherheit« inzwischen zu einem zentralen Dispositiv städtischer Restrukturierung geworden ist. Bereits seit 15 bis 20 Jahren lässt sich beobachten, dass eine wohlfahrtstaatliche Sozialpolitik tendenziell durch eine Sicherheitspolitik abgelöst wird, die sich durch ein verschachteltes und vielschichtiges System unterschiedlicher Kontroll-, Überwachungs-, und Ausschließungstechniken – insbesondere im städtischen Raum – entfaltet.
Die Vorherrschaft des Marktprinzips, das sich auf städtischer (lokaler wie globaler) Ebene als so genannter »Kampf um Standortvorteile« ausweist, hat inzwischen dazu geführt, dass sich »Sicherheit« gleichsam zu einem wichtigen »weichen Standortfaktor« entwickelt hat. Im Vordergrund steht dabei jedoch nicht etwa die Sicherheit, einen Arbeitsplatz zu bekommen oder sozial abgesichert zu sein. Im Kern zielen die Maßnahmen und Programme zur Herstellung von »Sicherheit und Ordnung« vielmehr auf die Rückeroberung der innerstädtischen Räume als einer ökonomisch zunehmend wichtigen Territorialität: Die Innenstädte sollen sich jetzt als »Visitenkarten« darstellen und werden langsam aber sicher dem Modell amerikanischer Malls und damit Hochsicherheitstrakten angepasst. Dadurch lassen sie sich besser vermarkten – aber vor allem besser kontrollieren.
Willkommen im Ort der Kontrolle
Die damit einhergehende wachsende räumliche und soziale Polarisierung wird zunehmend kontrollgesellschaftlich reguliert. Zentrale Faktoren der kontrollgesellschaftlichen Organisation urbaner Räume sind private Investitionsinteressen und die wachsende private Verfügungsmacht über den urbanen Raum. Treibender Motor ist der private Konsum und seine »Nicht-Orte«, die durch ihre ständige Vermehrung, die City zunehmend als »managed environment« erscheinen lassen. Im Zuge dieser Entwicklung findet eine grundlegende Umdefinition des öffentlichen Raumes statt: Im politisischen und medialen Diskurs gelten öffentliche Räume zunehmend als nicht kontrollierbare »gefährliche Räume«, als sicher dagegen gelten die segregierten Binnenräume wie Shopping-Malls, Einkaufspassagen, verpachtete Fußgängerzonen oder die privatisierten innerstädtischen Bahnhöfe und deren Vorplätze. Geht es innerhalb der privatisierten Einkaufszentren oder Shopping-Bahnhöfe vor allem darum, sie von einer »feindlichen Außenwelt« abzuschirmen, so gelten die innerstädtischen Einkaufsmeilen oder die Bahnhofsvorplätze als umkämpfte Territorien, in denen mit Hilfe einer rigiden Verdrängungspraxis eine selektive soziale Homogenität hergestellt werden soll. Gemeinsam ist diesen Räumlichkeiten, dass sie eine Art von Öffentlichkeit herstellen, die sich stark am Mythos einer heilen Kleinstadt orientiert, und das soll heißen: vor allem keine Gewalt, keine Unordnung keine Obdachlosen, keine Punks oder lärmende Jugendliche.
Innerhalb des städtischen Raums entsteht so ein immer dichter werdendes Netz aus Räumen und Plätzen mit ineinander übergehenden Hausrechts- und Kontrollbefugnissen. In diesen »neofeudalen« Inselwelten bewegen wir uns von einer »Wabe« zur nächsten, wobei jede dieser »Waben« ihre eigenen spezifischen Anforderungen stellt. Nur durch die Fähigkeit der ständigen (Neu)Anpassung (Modulation) an die jeweilige Verhaltensanforderung gelingt die reibungslose Bewegung in diesen Räumen. Innerhalb der Kontrollzonen geraten die NutzerInnen unter ein generalisiertes Verdachtsprofil, das lediglich noch darauf aus ist, »prekäre Situationen« zu verhindern. Die NutzerInnen der »Nicht-Orte« sind gewissermaßen ständig dazu aufgefordert ihre Unschuld nachzuweisen.
Als Gilles Deleuze in seinem 1993 veröffentlichten Aufsatz Postskriptum über die Kontrollgesellschaft die Ablösung der Disziplinargesellschaft durch die Kontrollgesellschaft diagnostizierte, begriff er das elektronische Halsband als Sinnbild des sich neu herausbildenden Gesellschaftstypus. Ursprünglich in gefängniskritischer Absicht entwickelt, wurde das elektronische Halsband bald zum Ausgangspunkt einer permanenten Kontrolle im Raum: Den Gefangenen können klar definierte Gebiete zugewiesen werden, die sie entweder nicht verlassen oder nicht betreten dürfen. Dieses Charakteristikum der permanenten Kontrolle im »offenen Gelände« kann als zentrales Merkmal der kontrollgesellschaftlichen Ordnung betrachtet werden.
Sinnbildlich für diese Form einer entmoralisiert-technokratischen Kontrolle im urbanen Raum steht die Videoüberwachung: Die Botschaft der Kamera lautet nicht, dass bestimmte Verhaltensweisen an sich verwerflich seien, sondern lediglich, dass diese an diesem bestimmten Ort nicht geduldet sind. Oder allgemeiner formuliert: Zeichnete sich die disziplinarische Kontrolle durch die systematische Überwachung der Individuen im Raum aus (Beleuchtung), so wird das Individuum der Kontrollgesellschaft – immer unter dem Leitprinzip der Sicherheit – einem Komplex von Techniken der permanenten Überprüfung, Kalkulation und (statistischer) Berechnung unterworfen (Durchleuchtung).
Platzverweise en masse
Das Spektrum an Kontroll- und Ausschließungsmechanismen, wie es gegenwärtig in der Stadt zu beobachten ist, kann mit klassisch-disziplinarischen Annahmen, wie sie etwa Michel Foucault in Überwachen und Strafen beschrieben hat, kaum noch erklärt werden. Innerhalb von Foucaults »Disziplinarwelt«, an dessen Spitze das moderne Gefängnis steht, wurden die Besonderheiten des Individuums noch in einen moralisierend-normierenden Blick genommen, denn es galt das Individuum wieder zu integrieren, zu verwerten, zu heilen. Die Kontrolle richtete sich sanktionierend auf die Seele des Individuums. In den »Waben« der Kontrollgesellschaft wirkt jedoch ein völlig anderer, räumlich-situativer Kontrollmodus: Erst durch das Eintreten in diese Orte wird der Einzelne in den Blick genommen, und auch dann sind seine Handlungen nur in dem jeweils definierten Raum und in der begrenzten Zeit seines Aufenthalts von Interesse. Dieser neue Kontrollanspruch richtet sich lediglich auf Orte und Situationen. Es gilt das Motto: »Du kannst tun, was Du tun möchtest, aber tue es in dem dafür vorgesehenen Raum, in der dafür vorgesehenen Weise – das gewährt Dir Sicherheit vor uns und uns Sicherheit vor Dir«[1]
Ein Netzwerk aus privaten Regierungen gesellt sich so neben die staatliche Kontrollmacht, deren Wächter lediglich noch an den permeablen Kontrollgrenzen patrouillieren müssen. Innerhalb dieser schein-öffentlichen (weil privaten, aber öffentlich zugänglichen) Kontrollsektoren fungieren die privaten Sicherheitsdienste quasi als »parastaatliche Ordnungsmacht«, die dafür sorgt, dass die von den jeweiligen InhaberInnen festgelegten Verhaltenserwartungen (z.B. die Hausordnung in der Einkaufspassage) eingehalten werden. Was »Sicherheit« und »Unsicherheit« ist, bleibt dabei grundsätzlich interpretationsoffen und kann jeweils vor Ort bestimmt werden. So können erwünschte Verhaltensnormen aktuell gesponsert und unerwünschte bzw. »konsumfeindliche« Handlungsformen sanktioniert und diffamiert werden. Gerade der massenhafte Einsatz privater Sicherheitsdienste, immer häufiger im Rahmen sog. »Sicherheitspartnerschaften« – zusammengesetzt aus den unterschiedlichsten öffentlichen und privaten Akteuren, ermöglicht eine spezifische Form der »Regierung aus Distanz«, die sich nicht mehr über allgemeine Interessen, sondern lediglich noch über die Durchsetzung von Partikularnormen konstituiert.
Innerhalb der »mallifizierten« Stadt-Räume ist die dominante Kommunikationsform auf den Konsum von Waren und Dienstleistungen beschränkt. Diejenigen, die den reibungslosen Konsum stören könnten – wahlweise Obdachlose, BettlerInnen, Jugendliche, MigrantInnen, DemonstrantInnen oder drogenkonsumierende Menschen – sind über den allerorts bekannten Innere-Sicherheits-Diskurs längst zu »gefährlichen Klassen« stigmatisiert und zentrale Bereiche der Innenstädte für sie zur No-go-Area erklärt worden. Eine gängige Praxis dieser neoliberalen Raum-Politik stellt etwa das Erteilen von Platzverweisen dar: Hier wird deutlich, dass es nicht mehr darum geht, etwas Bestimmtes getan zu haben: Allein der Aufenthalt in einem bestimmten Raum genügt bereits für einen Platzverweis. Soziale oder individuelle Gründe für den Aufenthalt spielen keine bedeutende Rolle mehr. Was eine Person tut oder lässt, nachdem sie vertrieben wurde, ist nicht mehr von Interesse – Hauptsache sie verschwindet aus der jeweiligen Wabe. Zeichnete sich die disziplinarische Überwachung noch durch ein räumliches Festsetzen der Individuen aus, als ein »gegen das Nomadentum gerichtetes Verfahren«[2] so zielen die kontrollgesellschaftlichen Interventionen lediglich auf die Verteilung der Menschen im Raum.
Kollektive Kommunikation: Konsum
Die innerhalb der unterschiedlichen Kontrollzonen zur Geltung kommenden Kontrollpraktiken betreffen zwar zunächst alle NutzerInnen gleichermaßen und verändern damit die Nutzungsbedingungen des städtischen Raums für alle. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Kontrolle auch alle im gleichen Maße betrifft. Die weniger auffälligen Zeichen der Exklusion, wie eine entsprechende Architektur oder diverse Ästhetisierungsmaßnahmen (die Bank, auf der man nicht mehr liegen kann bis hin zur Beschallung von Bahnhofsvorplätzen mit klassischer Musik), werden von denen, die sie betreffen, vor allem ärmere Menschen oder MigrantInnen, deutlicher empfunden und fordern sie unmissverständlich zum Gehen auf. Da für diese Menschen der Zugang zu den Kontroll-Räumen kaum möglich ist, lässt sich die räumliche Fragmentierung als Ursache einer zusätzlichen Marginalisierung betrachten.
Gewiss, die bisherigen Ausführungen zeichnen ein recht düsteres Bild der Zukunft des städtischen Raums: Überall entstehen künstliche Konsumwelten, der öffentliche Raum wird zerstört bzw. dem Mall-Modell angepasst. Die Armen werden ausgegrenzt und alle unterliegen einer permanenten Kontrolle. Während einige StadtforscherInnen in diesem Zusammenhang gar das Ende der Urbanität prophezeien, hält Mike Davis diesen Prozess – zumindest für Los Angeles – bereits für abgeschlossen. Dennoch sollte dieses düstere Bild abschließend relativiert werden. Es wäre zu kurz gegriffen, die cleanen und künstlichen Nicht-Orte des Konsums einem mystifizierten öffentlichen Raum gegenüberzustellen, welcher auf Grund der o.g. Entwicklungen nun definitiv verloren gegangen oder zerstört sei. Die Innenstadt ist zwar keine fröhliche Begegnungsstätte, aber sie lässt sich – auch wenn eine solche Tendenz beobachtbar ist – nicht reduzieren auf eine private und monofunktionale Konsummeile.
Die Stadt ist immer auch ein Ort, an dem Kämpfe um unterschiedliche und sich widersprechende Nutzungen und Bedeutungen stattfanden und stattfinden. Auch die Betrachtung der Marginalisierten lediglich als Opfer macht aus ihnen tatsächlich Objekte privater und staatlicher Kontrolle, und so sollte es in zukünftigen Analysen auch darum gehen, die zahlreichen Versuche und kleinen Erfolge dieser Gruppen zu identifizieren, die verordneten Nutzungsbestimmungen bzw. Bedeutungen dieser Räume für den eigenen Gebrauch handhabbar zu machen, sie subversiv zu unterlaufen und nach ihren Vorstellungen zu verändern.
Joachim Häfele
Aus: analyse und kritik Nr. 475/2003, Seite 13
[1] Lindenberg, M./Schmidt-Semisch, H.; Sanktionsverzicht statt Herrschaftsverlust: Vom Übergang in die Kontrollgesellschaft. In: Krimonologisches Journal, 27. Jg, Heft 1, 1995
[2] Foucault, M., Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M., 1994