Illegale Raves und die temporäre Besetzung von Räumen
Ein historischer Streifzug durch die radikale Technokultur Großbritanniens
Im Folgenden möchten wir die Geschichte von illegalen Technoparties in Großbritannien seit Mitte der 1980er Jahre etwas näher beleuchten. Damals existierte eine Szene, die öffentlichen Raum besetzte und zur Partyzone umwandelte. Das Selbstverständnis entsprach dem einer Gegenkultur, wobei die Motive der Beteiligten extrem unterschiedlich waren: von Hippie-beeinflussten Drop-Out-Phantasien bis zu anarchistisch-inspirierter Ablehnung des Staates. Diese Bewegung artikulierte sich im öffentlichen – teils im urbanen, teils im ländlichen – Raum durch die Veranstaltung von Parties und radikalisierte sich mit der Zeit zunehmend, bis sie Ende der 1990er Jahre langsam abflaute.
Von Hippie-Festivals zu Raveparties
Die Geschichte der alternativen Festivals in Großbritannien ist eng mit der Hippie-Gegenkultur verbunden. In typisch britischer Weise geschah dies in einer Verbindung mit Ideen einer angeblichen »keltischen« Spiritualität. Es ist deshalb kein Wunder, dass gerade die Festivals bei Stonehenge eine wichtige Rolle spielte. Das Monolithen-Bauwerk hatte in heidnischen Kreisen seit jeher eine spezielle Bedeutung, handelt es sich doch um die größte derartige Konstruktion und so gab es dort heidnische Treffen seit Ende des 2. Weltkriegs. Ab Mitte der 1960er Jahre kam es zu einer Popularisierung eines psychedelischen Antikapitalismus inspiriert von u.a. von Timothy Leary. Seit 1970 fingen Hippies an, jeweils zur Sommersonnenwende nach Stonehenge zu pilgern und dort gegenkulturelle Festivals zu organisieren. Gegenkultur deshalb, weil sie versuchten sich völlig von Staat und Gesellschaft abzukoppeln. »Tune in, Turn on, Drop out« war der damals ernstgemeinte Slogan der Zeit. Eine der Personen, die hinter dieser Bewegung steckten, war Phil Russell, ein Hippie-Drop-out aus besserem Hause, der der Meinung, war Christus begegnet zu sein, und sich bis zu einem gewissen Grad als Führer gebärdete. Bekannt und legendär wurde er unter dem Namen Wally Hope.
Die Hippie-Versammlungen in Stonehenge waren bald ein Dorn im Auge der Autoritäten. 1974 kam es zu einer größeren Konfrontation, da die Hippies dieses Jahr nicht nur zum Feiern kamen, sondern auch blieben: Sie besetzten das Gelände permanent. In Großbritannien muss ein Haus- oder Landbesitzer selbst Anzeige erstatten gegen Besetzer und konkrete Person benennen können, um sie von seinem Besitz entfernen zu lassen. Da es anderseits bis heute keine Pflicht gibt einen Ausweis zu tragen, war es möglich, dass die Hippies alle den Namen Wally adoptierten, um so das Gerichtsverfahren zur Farce werden zu lassen. Nicht nur gelang dies bestens; die Wallies bekamen auch einige Aufmerksamkeit durch die Medien. Ober-Wally Phil Russell ganz besonders. Zwar verloren sie den Prozess, mussten aber nur ein paar Meter weiter auf Gemeindebesitz ausweichen und das Lager existierte noch fast bis Ende des Jahres. Schon in den ersten Monaten von 1975 begannen die Vorbereitungen zum nächsten Festival, welches sich jährlich wiederholte. Endgültig verboten wurde das Festival 1985. Die Polizei griff die anreisenden Besucher mit brachialer Gewalt an, was als »Battle of the Beanfields« in die Geschichte einging. Traveller-Convoys, die zum verbotenen Festival anreisten, wurden von Hunderten Polizisten angegriffen, vor laufenden Fernsehkameras wurden schwangere Frauen verprügelt und Fahrzeuge vandalisiert. Die Botschaft war klar und das Datum markierte einen historischen Einschnitt. Dennoch gab es weiterhin 70 bis 80 Festivals pro Jahr.
Warehouse Party!
Gleichzeitig entstanden ab Mitte der 1980er Jahre neue, elektronische Musikarten. Dass Acid House und Techno plötzlich da waren, war natürlich keine Entwicklung von einem Tag zum anderen, sondern Resultat eines Prozesses, der wiederum sowohl soziale wie musikalische Ursachen hatte. Der soziale Aspekt war die unerlaubte Nutzung städtischen Raums für sogenannte Warehouse Parties. Anfangs wurde dort Funk, Soul, früher Electro und ähnliches gespielt. Gewisse Teile des elektronischen Sounds radikalisierten sich mit der Entwicklung der elektronischen Instrumente. Die Klangerzeuger wurden billiger und für breitere Schichten erschwinglich – ein weiterer Faktor, der die Entwicklung elektronischer Musik beschleunigte.
Aufgrund des vollmundigen Versprechen von Vergnügen, das auf bunten Flyern dargeboten wurde, fand man sich plötzlich in einem Warehouse im Industrieviertel mitten in einer Party wieder. Die Band war einem DJ gewichen, den man oft nicht mal sah und der irgendwo in der Ecke an den Plattentellern stand. Ein Stroboskop und Rauch sorgten für die Desorientierung der Sinne. Nun – so seltsam das heute klingen mag – das war wirklich etwas Irres, etwas Neues und etwas völlig Anderes als das bisher Bekannte.
Die ganzen Mechanismen der Vermittlung von Musik wurden gründlich über den Haufen geworfen. Die Party war ein Ereignis, das die mittlerweile fast kritiklos akzeptierten Hierarchien der Musikszene völlig außer Gang setzte. Aber nicht nur der DJ war jemand, der in der Ecke seinen Teil zum Gesamten abgab, ohne dabei im Mittelpunkt zu stehen. Denn er spielte all diese Platten ab, die als »White Labels« keinen Autor im klassischen Sinn kannten. Der Produzent wurde nicht genannt, statt der klassischen Angaben zum Künstler waren auf dem Aufdruck der Platte gar keine Angaben zu finden. So konnte der Produzent kein symbolisches Kapital aus der Veröffentlichung schlagen, der Starkult, der bis dahin in der Popmusik vorherrschte, wurde radikal in Frage gestellt. Die Abrechnung von Tantiemen über Verwertungsgesellschaften wurde dadurch ebenfalls umgangen. Die Platte war nicht mehr ein Produkt, das nach bewährten Marktmechanismen beworben wurde und das möglichst viele Leute kaufen sollten, das Set des DJ war keine Promotion für ein Produkt. Die Platte war eher ein Werkzeug für den DJ und das Resultat des Sets einem Austausch mit dem Publikum geschuldet. Gerade in England spielten oft nicht einzelne DJs, sondern ganze Kollektive, die ihre eigenen Anlagen zu Parties mitbrachten. Sound Systems, die ursprünglich aus einer Dub- und Reggae-Traditionen stammten, waren zumindest tendenziell egalitäre Kollektive, die eine kollektive Praxis in Ansätzen verwirklichten.
Die Orte, an dem Warehouse Parties stattfanden, waren meist besetzter, urbaner Raum. Leerstehende Fabrikhallen wurden sich temporär angeeignet und zu Tanzorten umfunktioniert. Weder wurde sich um einen Mietvertrag noch um erforderliche Konzessionen für Alkoholausschank etc. gekümmert. Durch die Locations, die ständig wechselten, mussten sich auch Besucherinnen und Besucher auf immer neue Orte und Situationen einstellen. Werbung fand klandestin über Mundpropaganda oder über Flyer statt, die nur auf entsprechenden Events oder in bestimmten Läden ausgelegt wurden – meist ohne Nennung einer Ortsangabe. Über Partyhotlines wurde dann kurzfristig die Adresse durchgegeben und so glich der Weg zur Party oft einer Schatzsuche mitten in der Stadt. Diese Taktik der Unsichtbarkeit diente vor allem auch als Schutz gegen Repression durch die staatlichen Behörden.
Neben diesem Driften durch den urbanen Raum ist es das Element der Zweckentfremdung kultureller Güter, das an die Praxis der Situationistischen Internationale erinnert. Die Ruinen der fordistischen Fabriklandschaften wurden neu interpretiert als Orte des kollektiven Tanzens. Statt des Drills der Fabrikarbeit zelebrierte man dort nächtelange Ausschweifungen und ließ sich von der Musik beglücken. Die vorgefundenen kulturellen Artefakte wurden sich kollektiv angeeignet; ihnen wurde eine neue Funktion zugewiesen. In kindlicher Naivität der frühen Ravezeit wurde die Stadt entdeckt. Die Stadt wurde zum Abenteuerspielplatz (Anja Schwanhäußer).
Angelehnt an die Idee der Temporären Autonomen Zone des damals recht populären Autors Hakim Bey wurden kurzfristig Orte geschaffen, die einzig dem Zweck eines kollektiven Musikfestes dienten. Es wurde nicht aktiv die Konfrontation mit der Staatsmacht gesucht, denn man zog nach der Party wieder weiter und nichts erinnerte mehr an die geschehenen Ereignisse. Gerade diese nomadische Strategie machte eine Stärke der illegalen Raumaneignung aus.
Vor allem in London entwickelten sich Warehouse Parties ab 1987 zum Massenphänomen. Nicht nur das; sie wurden zunehmend auch von den Massenmedien mit Aufmerksamkeit bedacht, die meist in Panikmache umschlug. Ein Aspekt davon war die Ankunft einer neuen Droge: Ecstasy. Eine Substanz, die ein empathisches Wir-Gefühl bewirkt, das damals zu einem Schlüsselerlebnis einer ganzen Generation wurde.
Es kam Ende der 1980er Jahre öfters vor, dass es illegale Parties im Norden Londons mit 10.000 Besuchern gab. Wohlgemerkt waren dies keine Free Parties mehr, sondern es wurden hohe Eintrittspreise verlangt. Dies war der Ausdruck einer stetige wachsenden Underground-Ökonomie, die von einem durchaus Thatcher-kompatiblen Unternehmergeist angetrieben wurde. Die Werte des »Anything-goes-Kapitalismus« wurden konsequent auf den Handel mit Drogen und die Organisation riesiger, illegaler Events angewandt. Die Rekuperation und damit Reintegration der Parties in das Spektakel begann.
Staatliche Repression gegen Raves
Neben der Entwicklung der Parties gab es einige einschneidende politische Ereignisse, die die Szene prägten. Das war zuerst der Poll Tax Riot vom 31.3.1990. Die konservative Thatcher-Regierung hatte einen Klassenkampf von oben zum Programm. Sie versuchte mit der Poll Tax eine Kopfsteuer einzuführen, um die Reichen steuerlich zu entlasten. Ursprünglich war die Idee ungefähr so: Jeder zahlt im Jahr 500 Pfund Sterling, egal wie viel sie oder er verdient. Das muss im Zusammenhang damit gesehen werden, dass viele von ungefähr knapp 40 Pfund Sozialhilfe pro Woche abhängig waren. Entsprechenden Anklang fanden die Mobilisierungen der Linken gegen diese Steuer. Zu der großen Demonstration kamen nach Polizeiangaben ungefähr 200.000 Menschen. Es kam zu massiven Auseinandersetzungen mit der Polizei und Massenmilitanz. Viele der im Rave-Kontext aktiven Leute wurden durch dieses Demonstration geprägt.
Eine Folge der Poll Tax, die übrigens wenige Jahre später abgeschafft wurde und durch eine Council Tax ersetzt wurde, war, dass nach einer Schätzung von 1992 1,8 Millionen Menschen in Großbritannien »verschwunden« waren, d.h. aus allen sozialen Registern gestrichen wurden. Es gab also eine sub-proletarische Schicht im England der frühen 1990er Jahre, die nicht nur mehr zigtausend Reisende umfasste sondern eine quasi abgetauchte Menge von fast 2 Millionen. Aus dieser Menge an Menschen mit einem halb-legalen Lebensstil rekrutierten sich die Organisatorinnen und Organisatoren und Besucherinnen und Besucher der Raves.
1992 fand dann das bis dahin größte Free Festival mit mindestens zwei Dutzend Sound Systems in Castlemorton statt – unter anderem auch dank der Polizei, die ein anderes Festival verhinderte und Tausende von Besuchern nach Castlemorton umleitete, die ansonsten nicht dorthin gekommen wären. Eine Folge von Castlemorton war die Vorlage einer neuen Criminal Justice Bill, die schließlich als Criminal Justice and Public Order Act 1994 Gesetz wurde. Diese Vorlage enthielt eine ganze Reihe von Bestimmungen, die sich direkt gegen Raver, Hausbesetzer und Traveller richtete.
Raver wurden insofern zum Ziel, dass ihre Veranstaltungen kriminalisiert wurden. Denn es wurden Merkmale von unerwünschten Veranstaltungen genannt, die ein Einschreiten der Polizei rechtfertigten: eine »succession of repetitive beats« im Beisein einer bestimmten Anzahl Personen unter freiem Himmel.
Gegen den Criminal Justice Act wurde außerordentlich wenig Kritik laut, jedenfalls nicht aus linksliberalen Kreisen, die eigentlich von der Sache her die Vorlage zur Kritik an der Regierung hätten benutzen können. Die Labour Party wollte sich aber auf keinen Fall als Verteidiger von Randgruppen profilieren, da sie nach den Wahlniederlagen der 1980er und frühen 1990er Jahre um jeden Preis eine mehrheitsfähige Volkspartei werden wollte. Insofern war es den betroffenen Gruppen selbst überlassen, die Einführung der Gesetzesvolage zu bekämpfen.
Politisierung der Subkultur durch linke Gruppen
Um diese Zeit herum, also ca. 1990, gab es neue Entwicklungen, und zwar taten sich Crews von Leuten zusammen, die sowohl von den Hippie-Festivals wie den städtischen Acid House Raves sozialisiert waren. Oft handelte es sich um Hausbesetzer, die als »Traveller« nomadisch mit ihren Wagen durch Großbritannien zogen. Viele Traveller zogen in den harten Wintermonaten in die Stadt in besetzte Häuser oder Industrieareale.
Man muss wohl kaum betonen, dass die Travellers, Squatters und Raver als solche politsch nicht organisiert waren. Natürlich gab es verschiedene politische Tendenzen. Eine davon könnte man mit dem damals gebräuchlichen Schlagwort des »Life-style Anarchism« umschreiben. Es handelt sich dabei um einen diffusen Anarchismus, der sich aus einer instinktiven, wenig reflektierten Ablehhnung des Staats und der Polizei nährt. Diese Haltung fand sich sowohl bei Punks wie bei Ravern und Travellern.
Eine andere war ein harmloses, psychedelisches Hippietum, das sich eher aus der Mittelklasse rekrutierte und das sich um den Klub Megatripolis in London herum kristallisierte. Diese Szene hatte durchaus auch direkte Verbindungen zur alten Festivalszene, versuchte ihre Musik aber in einem der trendigsten Clubs Londons, dem Heaven, damals erst kurz vorher von Richard Branson (Virgin) gekauft, unterzubringen.
Auf dieses diffuse Bewußtsein versuchten klassisch-organisierte, linke Gruppierungen und Parteien einzuwirken und in der Szene für ihre Ideen zu werben. So zum Beispiel die Socialist Workers Party, eine trotzkistische Kaderorganisation, die bis heute dafür bekannt ist, dass sie auf jeden fahrenden Zug populären Widerstands aufspringt (ihr deutscher Ableger war bis September 2007 Linksruck). Was dies mittlerweile für ekelhafte Formen annehmen kann, zeigt die Zusammenarbeit mit der Muslim Association of Britain in der neuen Partei »Respect«. Die SWP traf aber auch damals durchaus auf Ablehnung in der Szene. Dennoch gelang es ihr immer wieder, den Demonstrationen ein »Gesicht« zu geben, indem sie Tausende Plakate drucken ließ und an die Demonstrantinnen und Demonstranten verteilte. Dies war in letzter Zeit auch wieder an den Demonstrationen gegen den Irakkrieg zu bestaunen.
Eine tiefere Verankerung in der Szene hatte die Class War Federation, eine militante anarchistische Organisation, die sich um das »proletarische« Boulevardblatt Class War gruppierte. Diese Zeitung hatte statt einem nackten Mädchen auf Seite 3, wie das bei der »normalen« Boulevardpresse in England der Fall war, immer das Foto eines zusammengeschlagenen Polizisten an dieser Stelle und erreichte zeitweise eine Auflage von 15.000 Exemplaren.
Einen gewissen Einfluss hatten auch die verschiedenen Fraktionen des »grünen« Anarchismus, von Animal Liberation Front und Earth First! – all diese Gruppen waren primär aktionsorientiert. Earth First! und Green Anarchist waren die wichtigsten Vertreter des Neoprimitivismus in Großbritannien zu dieser Zeit. Als Utopie wurden autarke Dörfer und die Zurückentwicklung der Technologie angestrebt. Diese antizivilisatorische Ideologie gipfelte in der Glorifizierung von Massenmord (z.B. von den Giftgasattacken auf die Tokyoer U-Bahn 1995), was ihnen zu Recht erhebliche Kritik einbrachte. Stephen Booth, der maßgebliche Autor der entsprechenden Kolumnen, hat zwischenzeitlich Jesus gefunden und aufgrund interner Streits existierten zeitweise zwei Zeitungen mit demselben Namen. Der Gründer und ideologische Vater von Green Anarchist, Richard Hunt, endete durchaus folgerichtig in der radikalen Rechten und ist seit 1991 nicht mehr dabei. Allerdings muss man in unserem Zusammenhang erwähnen, dass die Technikfeindlichkeit von Green Anarchist natürlich nicht sehr gut in der Techno-Szene ankam.
Jedenfalls wurden ihrerseits die Traveller, Squatter und Raver in dieser Zeit auf den Britischen Inseln auf eine Art politisiert, wie dies nirgends auf dem Kontinent der Fall war und wie es in Deutschland nie der Fall sein sollte. Ein Soundsystem, das dadurch einen radikalen Anspruch entwickelte, war Spiral Tribe. Es wurde in einem der längsten und teuersten Prozesse der britischen Justizgeschichte angeklagt, das Castlemortonfestival mitorganisiert zu haben. Obwohl der Prozess mit einem Freispruch endete, war die Situation danach eine andere. Es war praktisch unmöglich geworden, illegale Festivals mit Techno zu veranstalten. Zwar berührte der Criminal Justice Act die illegalen Parties in den Städten wenig, hatte aber dennoch einen negativen Effekt auf die Traveller und, obwohl er Squatting nicht per se illegal machte, auch auf die Hausbesetzer.
Für Spiral Tribe war die Situation insofern klar, dass es unmöglich geworden war, in England zu agieren. Statt einfach aufzugeben begannen sie ganz im Gegenteil, die Idee der Festivals auf das europäische Festland zu exportieren. Interessant ist dabei, wo dies Anklang fand und wo nicht. In Deutschland nämlich nicht, obwohl ein Teil des Tribes im Winter 1993 in Berlin auf dem Areal des Tacheles campte und dort versuchte, allerlei Aktivitäten zu entfalten. Ganz anders sah dies in Frankreich aus, wo die Resonanz enorm war und sich eine große Szene für Techno-Festivals ausbildete. Später kam es auch dort zu staatlicher Repression.
Reclaim the Streets – Party goes Politics
Unterdessen gab es auch neue politische Aktionsformen mit den »Reclaim The Streets« (RTS) Aktionen, die um 1996 starteten. Die Hauptidee war dabei, urbanen – und vor allem öffentlichen – Raum zu besetzen und in belebte Parties zu verwandeln. Soundsystems wurden zu einem integralen Bestandteil dieser illegalen, neuen Demonstrationsform. Dieses Konzept wurde an verschiedenen Orten mit wachsendem Erfolg angewandt. Anfänglich standen hauptsächlich ökologische Themen im Vordergrund. Aber mehr und mehr wurde versucht, einen Schulterschluss mit den radikalen Fraktionen der Arbeiterbewegung zu vollziehen. So gab es eine Zusammenarbeit von Liverpooler Dock-Arbeiterinnen und -Arbeitern und RTS im Wahljahr 1997, die in einer Party auf dem Trafalgar Square endete.
Die spektakulärste RTS war wohl der »Carnival Against Capitalism« in der Innenstadt von London am 18. Juni 1999 zeitgleich mit dem G8-Treffen in Köln. Er wurde mit viel Zeit und Energie vorbereitet. Es wurde eine Demo-Zeitung gedruckt und ein kleiner Wegweiser durch die City. Der Treffpunkt war der Bahnhof Liverpool Street. Tausende strömten herbei. Die Polizei tappte völlig im Dunklen, was die Pläne betraf – aber ebenso die meisten der Demonstrantinnen und Demonstranten. Die Polizei glaubte, dass der Plan war, ein Sound System in den Bahnhof zu bringen und dort eine große Party steigen zu lassen. Deshalb war es so gut wie unmöglich, ein Fahrzeug mit einer Anlage in die Gegend von Liverpool Street zu bringen. Der Plan war aber ein ganz anderer – es wurden Masken verteilt, die vier verschiedene Farben hatten. Bald formierten sich vier Demonstrationszüge durch die Stadt und es kam zu zahlreichen Aktionen an bestimmten Institutionen. Die vier Züge vereinten sich einige Stunden später an einem Ort, wo das Sound System schon aufgebaut war. Die Polizei war derart ausmanöveriert worden, dass ihre Reaktion umso gewalttätiger wurde. Der Platz wurde geräumt und es kam zu einer stundenlangen Straßenschlacht. Eine Spur der Zerstörung zog sich von der City of London zum Trafalgar Square. Der Sachschaden war beträchtlich. Dieser massive Erfolg von RTS war allerdings auch der letzte. Die Regierung kündete einen »Zermürbungskrieg« gegen RTS an. Die darauffolgende Aktion im November wurde einfach von der Polizei eingekesselt und viele Aktivistinnen und Aktivisten des Carnival vom Sommer, die mittlerweile identifiziert worden waren, wurden dort verhaftet. Es gab zwar am Mayday 2000 nochmal eine denkwürdige Aktion, als der Parliament Square umgegraben und in einen Garten verwandelt wurde. Doch auch dort funktionierte die Einkesselungstaktik der Polizei. Und es gab kein Sound System mehr. Die Aktionsform von RTS ist zuletzt mit dem Mayday 2001 auf Grund gelaufen: Die Polizei ließ schlicht keinen Spielraum mehr, der Überraschungsmoment war verflogen.
RTS war so gesehen eher ein strategisches Mittel als eine zielgerichtete Taktik – denn auf welche Ziele hätte man sich einigen sollen? Dazu war die Bewegung zu heterogen, alles in allem war als Motivation maximal ein diffuser Antikapitalismus als Grundkonsens vorhanden. Neben der verstärkten Polizeirepression war die Popularität von Techno und elektronischer Musik ab Ende der 1990er Jahre am Abklingen. Die Bewegung insgesamt hatte 1999 ihren Zenit überschritten und wurde kleiner.
Das Ende der Party
In Deutschland wurde RTS ab Ende der 1990er Jahre als ultra-puritanische Angelegenheit übernommen; als ein Mittel, das von Linken mit erhobenem Zeigefinger zur Indoktrination der Partyszene gesehen wurde. Die damaligen autonomen Subkultur- und Poplinken wollten am Puls der Zeit bleiben und keine »langweiligen Latschdemos« mehr veranstalten. Also wurden genau diese langweiligen Demonstrationen kurzerhand zu RTS umdeklariert – auch wenn sich am üblichen Ritual nichts änderte. Man stand mit wenigen Leuten auf der Straße und rangelte mit der Polizei. Mit Party hatte das wenig zu tun, die zwanghaft aufgesetzte Politik verdarb hier jeden Spaß. Außerdem fehlte die massenhafte Basis, die die einen Erfolg der Aktionen ermöglicht hätte. Techno in Deutschland war ein komplett anderes Phänomen als sein britisches Pendant.
Und auch eine mobile, illegale Partyszene fasste in Deutschland nie richtig Fuß. Entsprechende Veranstaltungen wurden von Anfang an brutal von der Polizei geräumt, wie etwa das Southtek in Freiburg 2004.
Seit einigen Jahren ist es nun auch in Frankreich unmöglich geworden Teknivals – so wurden nach der Jahrtausendwende die illegalen Raves genannt – zu organisieren. Nachdem es noch 2003 zu massiven Polizeieinsätzen gekommen war, gibt es nun in vier verschiedenen Regionen Frankreichs legal abgesicherte und von der Polizei überwachte Festivals. Ebenfalls ein Fiasko war das tschechische Czechtek 2005, das durch ein massives Polizeiaufgebot gewaltsam aufgelöst wurde. Auch hier wurde nach starken öffentlichen Protesten wegen des übertriebenen Polizeieinsatzes eine Legalisierung nach französischem Muster angestrebt. Im Folgejahr durfte das Teknival mit offizieller Erlaubnis auf einem Militärgelände stattfinden. Danke, liebe Regierung!
Die Teknival-Kultur ist zwar nicht ganz zerschlagen worden, hat aber ihren Charakter als mögliche oder tatsächliche Gegenkultur verloren. Sie hat sich in den letzten Jahren zu einer kleinen Subkultur entwickelt, in der es vornehmlich um eine bestimmte Musikrichtung geht. Aber es war nicht nur die Repression, die zum Zerfall der Szene beitrug. Es gab immer wieder auch interne und strukturelle Probleme. Es konnten sich Hierarchien bilden und nicht nur der Druck von außen, sondern auch der Drogenkonsum sorgte für einen Burn-Out. Der rechtsfreie Raum, der bei einem illegalen Festival kreiert wird, kann sehr schnell in ein Recht des Stärkeren umschlagen. Und auch der Musikmarkt generell funktioniert heute eher wieder nach den traditionellen Mechanismen und Hierarchien, wenn er sich auch in Myriaden von Klein- und Kleinstkulturen aufgefächert hat.
Es ist wichtig, diese Geschichte nicht zu vergessen. Nicht aus Nostalgie. Dieser Artikel sollte nicht die Bewegung idealisieren, sondern den antagonistischen Moment herausschälen, der ihr innewohnte, ohne diverse Widersprüche und Probleme zu leugnen. Eine neue Bewegung wird sich kaum auf dieselbe Art manifestieren. Jacques Attali beschreibt in seinem Buch »Noise – The Political Economy of Music«, wie sich die Gesellschaft der Zukunft in der Musik äußert, und dass Fragmente der Zukunft im Jetzt hörbar seien. Danach wäre das Ziel zum einen durch Kritik, aber auch mit Musik als eine Art Zeitkapsel das Moment des kreativen Antagonismus in einer Zeit ohne tatsächliche Bewegung hochzuhalten, bis eines Tages vielleicht wieder ein fruchtbarer sozialer Boden da ist – wie auch immer eine Bewegung dann aussehen mag oder sich ihre Praxis anhören wird.
Christoph Fringeli / Hans-Christian Psaar