Die Zeichen auf der Tasse
Wenn Graffiti Kunst ist
Vor dem Beginn des alljährlichen »Kunstherbstes« erlebte Berlin 2007 ein neues Kreativ-Spektakel: den Streetartsommer. Im Umfeld der Ausstellung Backjumps, die mittlerweile zum dritten Mal im Bethanien stattfand, gab es zahlreiche Projekte und Showrooms, die alle um das Thema Graffiti und Streetart kreisten und sich über großen Besucherzuspruch freuen konnten. Das verwundert nicht, denn »Graffiti ist in« – das hat mittlerweile sogar die Landeskommission Berlin gegen Gewalt erkannt, die in einem Schülerbrief unter dieser Überschrift schreibt: »Graffiti findet nicht nur ihr gut, sondern auch Erwachsene: wenn es auf Krawatten auftaucht, auf Postern oder in der Krankenkassenwerbung. Ein bisschen Graffiti-Design auf den Espresso-Tassen ist auch o.k.« Ein ästhetischer Wert wird mittlerweile gar nicht mehr geleugnet. Gerne kann Graffiti nun auch Kunst sein – es muss nur alles seine Ordnung haben. Und ordentlich war es bei den Berliner Veranstaltungen. Nachdem beispielsweise im Bethanien im Verlauf der ersten Backjumpsausstellung 2003 die Gänge und der Eingangsbereich noch spontan und fast lückenlos zugetaggt wurden und so einer der interessantesten und auf jeden Fall authentischsten Ausstellungsbeiträge entstand, fielen bei der diesjährigen Ausgabe die akkurate Präsentation und saubere Wandgestaltung auf. Die »Bitte nicht taggen« Schilder brauchte man schon gar nicht mehr aufzuhängen. Nachdem 2005 bei Backjumps Nummer 2 die Besucher am Eingang nach Eddings durchsucht wurden, ist die Message offenbar angekommen. Zudem gilt es unter den Sprayern selbst mittlerweile zunehmend als unprofessionell, einfach irgendwo unsauber hinzutaggen, da dies nach wie vor nicht als Kunst sondern immer noch als mutwillige Verunreinigung gesehen wird. Von diesem Schmuddelimage wollte man sich bei Veranstaltungen wie Backjumps oder der Planet Process Show distanzieren, und nicht nur
Besucherzahlen und Ausstellungsaufbau ließen starke Assoziationen zu herkömmlichen Kunstevents aufkommen. Auch inhaltlich blieb man auf der sicheren Seite und also konventionell. Immerhin, kalkulierte Provokationen, als nette Geschenkpäckchen verpackt, und lustige Figuren boten garantierten Spaß für Kinder. Auch viele Erwachsene hatten daran ihre Freude. Andere dagegen mussten – enttäuscht oder auch nicht – feststellen, dass sogenannte Streetart auch ganz schön vorhersehbar und langweilig sein kann. Das kann man derartigen Ausstellungen aber nicht zum Vorwurf machen, denn das erklärte Ziel dieser Projekte ist es ja, neben der Präsentation verschiedener urbaner Ausdrucksformen insbesondere die
Entkriminalisierung von Graffiti voranzutreiben. Und etwas zu entkriminalisieren heißt letztlich nichts anderes, als es als harmlos zu erkennen und auch so darzustellen.
Dass Graffiti, solange es als illegaler »Vandalismus« wahrgenommen wird und damit die gängigen Verhaltensregeln in Frage gestellt werden, durchaus nicht als harmlos angesehen und deshalb ständig mit neuen und härteren Sanktionen belegt wird, zeigt, welch subversives, die öffentliche Ordnung gefährdendes Potential ihm offenbar immer noch innewohnt. Und zwar genau durch die Kompromisslosigkeit, Absichtslosigkeit, Unvorhersehbarkeit und damit Unkontrollierbarkeit, die verloren geht, wenn Graffiti zu Kunst oder Design wird und sich damit wieder klar in herkömmliche Strukturen und Schubladen einordnen lässt. Der insbesondere unter Sprayern beliebte Slogan »Graffiti is art, not a crime« gleicht deshalb eigentlich einer Entschuldigung. Er ist gewissermaßen eine Rechtfertigung, eine Suche nach Akzeptanz: Wir machen doch bloß Kunst.
Können dann aber aus den von Baudrillard einstmals als aufständisch beschriebenen Zeichen nicht ganz schnell reine Dekorationsobjekte werden, die nicht mehr gegen die Langeweile unserer Städte gerichtet sind, sondern diese letztendlich mitproduzieren? Wer schon morgens Graffiti auf seiner Espressotasse ertragen muss, den stört es in den Straßen dann nicht mehr oder weniger als jede x-beliebige Stadtmöblierung, deren Funktion oft darin besteht, einen Raum ein bisschen zu verschönern, damit seine Unzulänglichkeit nicht mehr ganz so unangenehm auffällt. Trotzdem hält sich hartnäckig das Image von Graffiti als spontaner Ausdrucksform des Undergrounds, der Subversion und Revolte. Das Verbotene, das trotzdem gemacht wird, die Revanche der Underdogs – so stellt man sich das Sprayen immer wieder gerne vor. Früher wäre vielleicht der Begriff der »Guerilla« noch eine passende Beschreibung für das wahllose Markieren öffentlichen Raums gewesen, heute denkt man dabei schon eher an »Guerilla-Marketing«. Denn wie bei jeder schleichenden allgemeinen Akzeptanz ehemals widerständiger Subkulturen profitiert vor allem die Werbung davon. Tatsächlich haben zahlreiche Marken, insbesondere Mode- und Lifestylelabels, längst die vermeintlich coole und authentische Formensprache des Graffiti für sich entdeckt und problemlos ins eigene Repertoire übernommen, den Mythos vom Widerstand inklusive. Es ist das alte Spiel: aus einer spontanen, selbstbestimmten und die Regeln missachtenden Aktion wird das konsumierbare Bild einer spontanen, selbstbestimmten und die Regeln missachtenden Aktion, mit dem man sich über
genau deren Abwesenheit zumindest eine Zeit lang ganz gut hinwegtrösten kann.
Dabei ist es jedoch nicht so, dass die Ästhetik von Graffiti ihren Autoren einfach entwendet, in neue Kontexte gestellt und ökonomischen Verwertungslogiken unterworfen wird, sondern diese arbeiten daran mit, indem sie in ihrem Tun unbedingt vom Rest der Gesellschaft verstanden werden wollen. Durch freundliches Entgegenkommen, beinahe schon pädagogische Erklärungen und eine hohe Bereitschaft zu Kompromissen treiben sie den offenbar unvermeidlichen Prozess der Domestizierung selbst am meisten voran. Legale Flächen und die damit verbundene Legitimation, der Eintritt in den Kunstkontext oder die Akquise bezahlter Aufträge sind heute für nicht wenige Sprayer Ziele, die es zu erreichen gilt, da sie Sicherheit, Anerkennung und bestenfalls sogar ein Einkommen versprechen. Und sind es nicht durchaus verständliche und realistische Ziele? Shepard Fairey, der mit seiner »Obey«- Kampagne mittlerweile richtig gut verdient, hat schon Recht, wenn er sagt: »Von seiner Kunst zu leben, ist viel besser, als irgendeinen langweiligen Job machen zu müssen.« Genauso realistisch sind allerdings die Befürchtungen anderer Sprayer angesichts solcher Tendenzen. »Wenn wir um Freiraum bitten, wird unsere Arbeit ihre Substanz verlieren. Unsere Interventionen sind spontan und kommen von innen, wenn wir diese Wurzeln verlieren, werden wir nur noch einfache Hausbemaler sein.« schreibt einer in einem Internetforum. »Wer will schon, dass Graffiti akzeptiert wird?«, fragt ein anderer. Das wollen vielleicht am ehesten jene, die in Graffiti zwar noch immer eine potentielle Bedrohung sehen, weil es sich ihrer Kontrolle entzieht, jedoch mittlerweile erkannt haben, dass es sich auch als nützliches Ventil gebrauchen lässt, mit dem man gefährlichen Druck entschärfen kann, wenn es nur vorsichtig und in Maßen bedient wird. Denn was erst einmal allgemein akzeptiert ist, lässt sich leichter integrieren. Und wenn es integriert ist, dann läßt es sich um so besser kanalisieren, kontrollieren und für eigene Zwecke gebrauchen. Ein allgemeiner Hype um die Graffitikultur trägt wesentlich mehr zu ihrer Zerstörung bei, als es ein simples Verbot je könnte.
Das ist auch die Meinung der sogenannten Splasher, einer neuen Bewegung aus New York, die insbesondere Streetartmotive mit Farbbeuteln attackieren und den Bildern der Straßenkünstler damit den Krieg ansagen. Allerdings nicht, weil sie diese für Vandalismus halten, sondern weil sie sie für nicht radikal und konsequent genug erachten. In ihrem Manifest, das sie neben den verunstalteten Bildern plakatieren, stellen sie außerdem fest, dass Graffiti und Streetart letztlich immer eine Form von Werbung ist und bleibt, auch wenn es sich hier nicht um Werbung für ein Produkt, sondern für einen »emerging artist« handelt. Es ist also ein Trugschluss, anzunehmen, diese Form von Kunst auf der Straße sei gegen die Werbung gerichtet. Sie beansprucht lediglich ihren eigenen Werbeplatz. Und wollte Streetart, wie der Name schon sagt, sowieso nie etwas anderes sein als Kunst, so werden mittlerweile Graffiti-Pieces und Tags ebenso immer öfter im Kunstkontext gesehen. Auch die saubere Übermalung von Graffiti mit weißen Rechtecken ist nicht mehr allein erklärten Graffitigegnern zuzuschreiben. Splittergruppen der Splasher sind in Berlin oder Leipzig bereits unterwegs und bereiten mit ihren Attacken schon den nächsten »Reclaim the streets«-Hype vor.
Die Straße wird also bis auf weiteres ein umkämpfter Raum bleiben. Banksy, der nach langen Jahren illegalen Sprayerdaseins auch zur Kunstikone wurde, veröffentlichte vor einiger Zeit eine an ihn adressierte Email, in der ihn zwei Leute aus einer einfachen Wohngegend Londons baten, seine Sachen in Zukunft woanders zu sprühen, da mehr und mehr Yuppies und Studenten, angelockt von seinen Schablonengraffiti, ins Viertel zögen in der Annahme, es sei jetzt cool. Die durchaus naheliegende Befürchtung der beiden war, dass sie sich bald keine Wohnung mehr in der Gegend leisten können. So sieht offenbar heute die vielbeschworene Broken Windows-Theorie aus, laut der das Auftauchen von Graffiti der Anfang eines umfassenden Zerfallsprozesses ist. Wer dann wie und warum welche Stadt zurückerobert, bleibt eine offene Frage.
Diana Artus
Überarbeitete Version eines Textes aus der Jungle World 30/2007, 2–5