Die Abstraktion vom Sozialen
Die spezifische Leistung räumlicher Kontrollmaßnahmen
Räumliche Kontrollmaßnahmen wie Aufenthaltsverbot, Verbringungsgewahrsam, Platzverweis, Videoüberwachung oder die Ausweisung »gefährlicher Orte« und die ihnen zugrundeliegende Denkweise abstrahieren so weit von jeder konkreten sozialen Praxis, die man als »kriminell« bezeichnen kann, und damit so weit vom Sozialen überhaupt, dass die Behauptung der »Gefährlichkeit« von Raumausschnitten ohne Bezug auf Gesellschaft möglich ist. Das ermöglicht den präventiven Zugriff auf alle Personen, die in diesen Raumausschnitten anzutreffen sind. Dabei ist es die »räumliche Logik« selbst, die diese Abstraktion plausibel erscheinen lässt. Die Möglichkeit räumlicher Kontrollmaßnahmen ist erst gegeben, wenn »Kriminalität« als räumliches Phänomen betrachtet wird und Raumausschnitte kriminalisiert werden. Derart ideell konstruierte »kriminelle Räume« (Belina 1999) erlauben materielle (Kontroll-)Praxen, die von den kriminalisierten Raumausschnitten ausgehend notwendig wieder Personen in den Blick nehmen, deren Motive, Praxen und »tatsächlichen Gefährlichkeit« dann gleichgültig sind.
Dieser »räumliche Ansatz« setzt eine Reihe aufeinander aufbauender Abstraktionen voraus, die durch die Kriminalisierung von Akten, Individuen und Gruppen kriminalpolitisch ins Werk gesetzt werden. Diese Kriminalisierungen werden im Folgenden nacheinander diskutiert. Dabei liegt der Fokus auf den Leistungen der dabei getätigten Abstraktionen, ihren praktischen Folgen für die staatliche Kontrollpraxis und deren ideologischer Legitimierung durch Strafrechtstheorie und Kriminologie.
Da der Kern der spezifischen Leistung räumlicher Kontrollmaßnahmen in deren Abstraktion besteht, gilt es zunächst zu bestimmen, was hier unter »Abstraktion« verstanden wird. Ollman (1993: 26f.) unterscheidet drei Aspekte von Abstraktion: Erstens ist Abstraktion als Prozess des Abstrahierens ein für jedes Denken notwendiger Vorgang, der an einem Gegenstand nur einen bestimmten Aspekte in den Blick nimmt und damit von allen anderen Aspekten absieht (abstrahiert). Zweitens ist eine Abstraktion das Resultat dieses Prozesses, das als solches als eine fixe und von den internen Relationen, aus denen es abstrahiert wurde, unabhängige Eigenschaft des Gegenstandes erscheint. Drittens kann eine solche Abstraktion zur Ideologie werden, wenn interessensgeleitet ein Aspekt als für den Gegenstand wesentlich betrachtet wird, der dies tatsächlich nicht ist (Ollman 1993: 36f.). Die eigentlich zur Erklärung des Gegenstandes wichtigen Aspekte werden so de facto als irrelevant angesehen. Sayer (1999: 138-140) nennt solche Abstraktionen »chaotische Konzepte«, die zur Beschreibung taugen mögen, die aber »zu Problemen führen, sobald ihnen die ausschließliche Erklärungskraft für alle Objekte zugeschrieben wird, die in eine [durch das chaotische Konzept definierte] Klasse fallen« (ebd.: 139).
Die erste Abstraktion, die jeder Kriminalpolitik zugrunde liegt, ist die Kriminalisierung von Akten durch die Instanzen sozialer Kontrolle, also durch Polizei und Justiz. Denn »kriminell« wird ein Akt erst durch einen »langen Prozess der Bedeutungszuschreibung« (Christie 2000: 22, vgl. Steinert 1973). Der Maßstab, an dem jede soziale Praxis gemessen wird, ist das Strafrecht. »A crime, is a sinne, consisting in the Committing (by Deed, or Word) of that which the Law forbiddeth, or the Omission of what it hath commanded.” (Hobbes 1968: 336) Im Strafrecht wird an einer sozialen Praxis nur und ausschließlich festgestellt, ob sie gegen ein bestehendes Gesetz verstoßen hat oder nicht. Die klassische Strafrechtslehre, wie sie von Kant und Hegel vertreten wurde (Fetscher 1993), geht ausschließlich vom kriminellen Akt aus und legitimiert die Strafe als Vergeltung des Normverstoßes. Damit wird von allen anderen Aspekten und von den gesellschaftlichen Verhältnissen, die für jede soziale Praxis wesentlich sind, abstrahiert. Indem diese Abstraktion die Grundlage staatlicher Kriminalpolitik wird, basiert diese auf der Absehung von den gesellschaftlichen und Machtverhältnissen.
Diese grundlegende Abstraktion von der sozialen Praxis auf den abstrakten Akt ist in der Rechtsform selbst notwendig enthalten, also nicht nur im Strafrecht (Paschukanis 1929). Wie Marx in der Kritik des Gothaer Programms (1875) ausführt, kann das Recht »seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehn«, was nur möglich ist, wenn man alle Gegenstände »unter einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite fasst« (MEW 19: 21). In Anlehnung an das berühmte Diktum von Anatole France gilt, dass das Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit tatsächlich sowohl den Reichen wie den Armen verbietet, unter Brücken zu schlafen, in den Straßen zu betteln, und Brot zu stehlen. Die Kriminalisierung des Aktes ist den jeweiligen Tätern und deren gesellschaftlicher Stellung gegenüber tatsächlich gleichgültig. In der Absehung von den konkreten Unterschieden der gesellschaftlichen Stellung liegt die ideologische Leistung der Abstraktion »Recht«: Sie tut so, also gäbe es keine produzierten sozialen Unterschiede und Gegensätze.
Wenn das konkrete Individuum für den staatlichen Umgang mit Rechtsbrüchen irrelevant ist, wird auch keine kriminologische Theorie benötigt, die erklärt, warum manche Menschen Verbrechen begehen und andere nicht (Albrecht 1999: 21f.). Es genügt die Vorstellung eines rational kalkulierenden homo oeconomicus, den ein »rationales (abstraktes) Gewinnstreben« (Huphries/Greenberg 1988: 210) zum Brechen der Gesetze antreibt und der als unabhängig von den gesellschaftlichen Verhältnissen, mithin abstrakt, begriffen wird. Diese Figur liegt der klassischen Schule der Kriminologie bei Beccaria und anderen gegen Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts zu Grunde. Unschwer lässt sich darin die kriminologische Übersetzung der durch den Warentausch auf »das nackte Interesse, […] die gefühllose ‚bare Zahlung’« (MEW 4: 464) reduzierten sozialen Verhältnisse im Kapitalismus wiederfinden (Huphries/Greenberg 1988: 210f.).
Die Verfolgung und Bestrafung kriminalisierter Akte ist im juristischen Sinn reine Repression, d.h. Kriminalpolitik findet stets nach dem kriminalisierter Akt statt. Prävention wird hier nur im Sinne von Spezial- oder Generalprävention durch eine erhoffte Abschreckung durch Repression betrieben (Sack 1995: 438).
Zusammenfassend lässt sich zur Kriminalisierung von Akten durch das Strafrecht und seine Anwendung festhalten, dass ihre zentrale Abstraktion darin besteht, an sozialen Praxen nur das Moment des Verstoßes gegen ein Gesetz zu fokussieren. Damit sind die gesellschaftlichen und Machtverhältnisse außen vor, von ihnen wird abstrahiert. Die Kontrollpraxis, die aus dieser Abstraktion folgt, ist Repression, präventiv ist sie nur durch ihre abschreckende Wirkung. Legitimiert wird sie strafrechtstheoretisch als Vergeltung des Normverstoßes durch den Staat. Das kriminologische Äquivalent dieser Tatorientierung ist der rational kalkulierende Verbrecher, der abstrakt und ohne Bezug zu den gesellschaftlichen Verhältnissen analog zum homo oeconomicus gedacht wird.
Die zweite Abstraktion ist die Produktion von kriminellen Individuen. Diese hat Hegel in seinem Aufsatz Wer denkt abstrakt? [1807] als Beispiel für abstraktes Denken angeführt:
Dies ist abstrakt gedacht, in dem Mörder nichts als dies Abstrakte, daß er ein Mörder ist, zu sehen und durch diese einfache Qualität alles übrige menschliche Wesen an ihm [zu] vertilgen. (Hegel 1966: 578)
Die Abstraktion besteht hier also darin, von allen anderen Aspekten abzusehen, die ein Individuum ausmachen, und dieses auf einen »Kriminellen« zu reduzieren. Diese Abstraktion hat Foucault in Überwachen und Strafen (1994) untersucht. Er zeigt, wie der »Delinquent« im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts durch staatliche Strafen erst konstituiert wird. War Strafe, wie gesehen, zuvor immer Vergeltung für einen kriminellen Akt, geht es fortan um Individuen, die qua ihrer Natur und ihres Wesens von der Norm abweichen. »Der Delinquent unterscheidet sich vom Rechtsbrecher dadurch, dass weniger seine Tat, sondern sein Leben für seine Charakterisierung entscheidend ist” (Foucault 1994: 323). Dieser Delinquent ist dann mit Haut und Haaren Verbrecher, also als ganzer Mensch. Dabei wird so getan, als wäre jemand, der gegen ein Gesetz verstoßen hat, in toto dem Gesetzesbrechen verfallen und müsse deshalb auch in Zukunft notwendig wieder Gesetze brechen. Somit wird der Delinquent »vor dem Verbrechen und letzten Endes sogar unabhängig vom Verbrechen” (ebd.: 324) geschaffen. Indem nun dem ganzen Menschen »Verbrechertum” unterstellt wird, gilt er in Zukunft als jemand, der zum Verbrechen neigt und auf den man »ein Auge werfen” muss. Diese zusätzliche Aufmerksamkeit legitimiert präventive Maßnahmen, die also getroffen werden, obschon die betreffende Person sich aktuell gar nichts zu Schulden hat kommen lassen.
Der Übergang vom kriminalisierten Akt zum kriminalisierten Individuum ist im Strafrecht bereits angelegt, da zu jedem Verbrechen notwendig ein Verbrecher gehört. Dieser Übergang spiegelt sich in den deutschen Strafrechtsdebatten zu Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wieder, die üblicherweise als eine zwischen Vertretern eines traditionellen Tat- und denen eines modernen Täterstrafrechts dargestellt wird. Die Reformer fordern dabei, die Strafe nach der Täterpersönlichkeit zu differenzieren (Albrecht 1986: 57). Weil auch dabei vom kriminalisierten Akt ausgegangen wird, liefert die Person des Täters »lediglich den Anknüpfungspunkt für das strafrechtliche Zurechnungsurteil« (Frommel 1991: 470). Es soll im Täterstrafrecht also nicht die o.g. Abstraktion von sozialer Praxis auf kriminalisierten Akt rückgängig gemacht werden, um diesen erklären zu können, sondern die Person des Täters kommt nur vor, um zu einem angemessenen Umgang mit ihm zu finden. Diese relative Straftheorie hat ihr Maß also in der Persönlichkeit des Täters. Sie ist die Basis des direkten Zugriffs des Staates auf Kriminelle als ganze Individuen.
Für die Kriminologie bedeutet die Abstraktion »kriminelles Individuum« im späten 19. Jahrhundert ihre eigentliche Geburtsstunde (Albrecht 1999: 8). Sie macht sich auf die Suche nach den vermeintlichen Ursachen, die aus einer Person einen Delinquenten machen. Dabei verfällt sie auf unterschiedliche Erklärungsansätze, denen die Naturalisierung der Delinquenz gemeinsam ist. Die »Kriminalität« wird als »Resultante einer Reihe von Merkmalen und Faktoren« (Strasser 1984: 15) begriffen, die dem Individuum als Eigenschaft zukommen. Dabei ist es für die Praxis irrelevant, ob in den unterschiedlichen Theorien die Natur oder die Gesellschaft/das Milieu für die individuelle Kriminalität verantwortlich gemacht wird. Gemeinsam ist ihnen die betriebene Wesenszuschreibung. Die biologistische Variante in Gestalt des von Lombroso im ausgehenden 19. Jahrhundert geschaffenen homo delinquens stellt dabei nur eine, wenn auch bedeutende, Variante dar (Frommel 1991: 482-5, Strasser 1984).
Die Konstruktion des kriminellen Individuums entspringt dem Interesse an seiner präventiven Behandlung. Die Zuschreibung »Verbrechertum« hat überhaupt nur einen Sinn, wenn aus ihr praktische Folgerungen gezogen werden. So ging es auch in den o.g. Strafrechtsreformdebatten um die vorletzte Jahrhundertwende um »eine theoretische Umorientierung […] hin zu einer Theorie der Strafe als sozialer Gegenreaktion gegen sozial schädigende und mit entsprechendem Bewußtsein begangene Handlungen« (Frommel 1991: 468). Diese »relative Strafrechtstheorie« besteht in einer »ausschließliche[n] Orientierung der Strafe am Ziel der Kriminalprävention« (Albrecht 1999: 3). Damit kommt die Kriminologie in ihrer traditionellen Form, d.h. das Strafrecht und die von ihm produzierte Kriminalität als Datum hinnehmend, ins Spiel, wenn auch auf eigentümliche Weise, nämlich »im Ordnungsdienst des Staates« (ebd.). Denn wenn der Staat verhindern will, dass Delinquenten erneut straffällig werden, muss er etwas über die Gründe der Kriminalität wissen, um sie in Zukunft zu verhindern. Eigentümlich ist das für eine Erklärung abweichenden Verhaltens, weil das Interesse an Prävention erkenntnisleitend ist: »Der Präventionsstandpunkt hindert überhaupt daran, das abweichende Phänomen richtig in den Blick zu bekommen, da er vom Ziel bestimmt und motiviert wird, es auszumerzen.« (Matza 1973: 22) Mit Strasser kann von diesem Typus der mainstream Kriminologie gesagt werden: »Eine Wissenschaft, die sich bereits im Vollzug der Erkenntnisproduktion den Ordnungsmächten anbiedert, hat […] keine Existenzberechtigung, insoweit sie beansprucht, der Wahrheit zu dienen.« (Strasser 1984: 7) Diese Indienststellung wird erst mit Aufkommen der kritischen Kriminologie in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts – und nur von einem kleinen Teil der Kriminologen – überwunden (vgl. Sack 1990, Steinert 1973).
Der präventive Umgang mit Delinquenten kann aus einer Bandbreite konkreter Maßnahmen bestehen und Resozialisierungsmaßnahmen, die auf eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft abzielen, ebenso beinhalten wie das Gegenteil, also den dauerhaften Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Leben durch Einsperren oder Umbringen. Beide Varianten, Inklusion und Exklusion, sind von Anfang an in der staatlichen Konstruktion des Verbrechers angelegt (Frommel 1991: 482-485) und bilden bis heute die beiden Möglichkeiten des staatlichen Umgang mit ihm (vgl. Beckett/Western 2001, Cremer-Schäfer/Steinert 1997, Wacquant 1997). Dabei ist natürlich immer unterstellt, dass der Staat mit ihnen umzugehen hat, d.h. die Abstraktion »Verbrecher« wird auf diese Weise praktisch gemacht, was unterschiedliche Verlaufsformen annimmt.
Zusammenfassend lässt sich zur Kriminalisierung von Individuen durch den Staat festhalten, dass ihre zentrale Abstraktion darin besteht, an Personen nur ihre Eigenschaft als »Kriminelle« zu fokussieren. In der Praxis wird mittels dieser Abstraktionen der staatliche Zugriff auf Delinquenten als »ganze Menschen« betrieben und legitimiert. Dieser Zugriff ist präventiv, weil der Umgang mit Subjekten auf die Verhinderung zukünftiger Straftaten gemünzt ist und i.d.S. unabhängig von den tatsächlich begangenen. In der Strafrechtslehre ist dies die Stunde der relativen Straftheorie, die die Strafe nicht nach der Schwere der Tat, sondern nach der Persönlichkeit der Täters bemessen wissen will. In der Kriminologie entspricht diese Abstraktion dem homo delinquens, dem Verbrecher qua Geburt/Natur, Gesellschaft/Milieu oder Gewöhnung.
Eine weitere Stufe der Abstraktion ist erreicht, wenn die vermeintliche Gefährlichkeit eines Verbrechers auf Grund von Ähnlichkeiten des Äußeren, des Verhaltens oder in sonstiger Hinsicht auf andere Individuen übertragen wird. So werden kriminelle Gruppen auf Grund gemeinsamer Merkmale produziert. Von der konkreten sozialen Praxis, die als Akt kriminalisiert wird und auf Grund derer ein Individuum zum «Verbrecher” wird, wird hier noch weiter abstrahiert: Mitglieder der kriminalisierten Gruppe müssen sich keinerlei kriminalisierbarer Verhaltensweise schuldig gemacht haben, um als gefährlich zu gelten.
Der Übergang vom kriminalisierten Individuum zur kriminalisierten Gruppe ist in der weiter oben diskutierten Suche nach verbrecherischen Individuen in Strafrechtslehre und Kriminologie bereits angelegt. Sowohl beim Umgang mit als auch bei der Erklärung von Verbrecherpersönlichkeiten, also sowohl im Strafrecht als auch in der Kriminologie, interessiert diese nie wirklich als Individuum, sondern als Verbrechertypen, die auf einer Skala zwischen (besserungsfähigem) Gelegenheits- und (wegzusperrendem) Gewohnheits- oder Berufsverbrecher einsortiert und entsprechend behandelt werden. Durch die Feststellung einer »kriminellen« individuellen Natur und deren Zuordnung zu einem Typus sind diese Typen als Gruppen konstruiert, in denen die Gefährlichkeit ihrer Mitglieder die Gemeinsamkeit stiftet. Grundlage dieser Abstraktion vom Individuum zur Gruppe ist von Anfang an das Interesse an einem Zugriff auf und einen Umgang mit Individuen, was durch die Typenbildung systematisiert und damit praktikabler wird (Strasser 1984: 21). Gemeinsam ist den unterschiedlichen Erklärungen, die die Zugehörigkeit zu einer kriminellen Gruppe begründen (Natur, Milieu etc.), dass die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihnen nicht oder nur am Rande bzw. in eigentümlicher Weise vorkommen. Wird behauptet, Gruppen würden sich qua Natur konstituieren, liegt die Absehung von den gesellschaftlichen Verhältnissen auf der Hand: »Geborene Verbrecher« sind unabhängig von den gesellschaftlichen Verhältnissen Abweichler, um die es sich staatlicherseits zu kümmern gilt. Wird der Grund der Kriminalität einer Gruppe im Sozialen gesucht, wird Gesellschaft auf ein System von Ordnungsregeln reduziert, gegen die kriminelle Gruppen und ihre Mitglieder verstoßen, ohne die Genese dieser Regeln zu thematisieren.
Nirgendwo ist das evidenter als in der Gleichsetzung von »arm« und »kriminell« (Cremer-Schäfer 1997). Der Rekurs auf die sozioökonomische Lage der kriminalisierten Gruppe abstrahiert – zumindest im mainstream der Kriminologie – von den Gründen für Armut. Seit dem Aufkommen des Kapitalismus wird dem Proletariat neben seiner objektiven Armut auch eine Gefährlichkeit als Klasse zugeschrieben. Das Interesse, das dieser Kriminalisierung zu Grunde liegt, kann unschwer mit der Kontrolle dieser Klasse zum Zweck der Sicherung der eingerichteten Produktions- bzw. Gesellschaftsverhältnisse bestimmt werden (Neocleous 2000, Dinges/Sack 2000). In diesem Sinn hat Marx in Zur Judenfrage (1844) bei seiner Diskussion der Menschenrechte ausführt: »Die Sicherheit ist der höchste Begriff der bürgerlichen Gesellschaft, der Begriff der Polizei, dass die ganze Gesellschaft nur da ist, um jedem ihrer Glieder die Erhaltung seiner Person, seiner Rechte und seines Eigentums zu garantieren.« (MEW 1: 365f.; zum Begriff der »Polizei« vgl. Neocleous 2000) In der Praxis war von Anfang an der »empirische Adressat der strafrechtlichen Sozialkontrolle – entgegen der Rhetorik des Strafrechts – nicht der isolierte und individuelle Rechtsbrecher, sondern der Rechtsbrecher in seiner Zugehörigkeit zu einer ‚sozialen Kategorie’« (Sack 1995: 442).
Formell wird die Zugehörigkeit zu einer Gruppe im Strafrecht nur in politisch begründeten Ausnahmen kriminalisiert. In der Geschichte der BRD sind das politische Strafrecht (in Kraft 1951-1968) mit seiner Kriminalisierung der Zugehörigkeit zu kommunistischen Vereinigungen (Brünneck 1978: 71-79) und die §§ 129, 129a und 129b StGB zu nennen. Der 1976 ins Strafrecht aufgenommene §129a, der die »Bildung terroristischer Vereinigungen« unter Strafe stellt, eröffnet dem Staat die Möglichkeit, strafrechtlich gegen vermeintliche Gruppenmitglieder vorzugehen, denen außer ihrer Mitgliedschaft in der Gruppe nichts vorgeworfen wird (Gössner 1991). Doch auch ohne solche expliziten Kriminalisierungen qua Gruppenzugehörigkeit verdeutlicht ein Blick in die Strafgerichte und Gefängnisse, welche Gruppen von staatlicher Kontrolle besonders betroffen sind. Die Selektivität der Strafjustiz nach sozioökonomischem Status und nationaler Zugehörigkeit gehört »zum festen Bestand kriminalsoziologischen Wissens« (Peters 1989: 193).
Mit der Abstraktion »kriminelle Gruppe« wird eine weitere Prävention und damit Vorverlagerung des staatlichen Eingriffs begründet. Es geht nun gar nicht mehr um bereits vorgefallene Akte, denen im strafrechtlichen Sinn repressiv begegnet wird. Diese dienen nur mehr als verallgemeinerbarer Anlass und Legitimation, um Zugriff auf ganze Gruppen zu nehmen. Die Leistung dieser Abstraktion ist die Begründung des präventiven, da unabhängig von allem Vorgefallenen ins Werk gesetzten Zugriffs auf alle Mitglieder der Gruppe.
Zusammenfassend lässt sich zur Kriminalisierung von Gruppen festhalten, dass ihre zentrale Abstraktion darin besteht, an einer (mitunter erst durch die Kriminalisierung selbst konstituierten) Gruppe nur deren vermeintliche Gefährlichkeit zu fokussieren. Die Kriminalisierung von Gruppen legitimiert den präventiven staatlichen Zugriff auf alle ihre Mitglieder. Im Strafrecht ist die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, mit Ausnahme der politischen Justiz, nicht verboten. In der Strafrechtspraxis sind allerdings unterprivilegierte Gruppen von staatlicher Kontrolle und Sanktionen am stärksten betroffen. In der Kriminologie ist in der Figur des Verbrechertypus der Übergang zur gefährlichen Gruppe bereits angelegt. Explizit findet sich diese Abstraktion etwa in der Annahme von »gefährlichen Klassen«.
Eine weitere Stufe von Abstraktion und Prävention bedeutet schließlich die Produktion krimineller Räume durch die Kriminalisierung von Raumausschnitten. Ein Raum kann noch nicht einmal potentiell »an sich” kriminell sein, sondern bestenfalls von «kriminellen” Individuen oder Gruppen bevölkert werden. In der räumlichen Betrachtung hingegen wird der Raumausschnitt selbst zum Gefährlichkeit stiftenden Aspekt dieser Individuen und Gruppen, die ihn bevölkern, ihm werden kriminogene Eigenschaften zugeschrieben. Wenn eine Gegend von den Instanzen staatlicher Kontrolle als »kriminell” eingeschätzt und entsprechend behandelt wird, sind damit alle, die sich dort herumtreiben oder gar dort leben, einem Generalverdacht qua Lokalisierung ausgesetzt. Ob es sich bei den Personen i.S. der Kriminalisierung von Individuen und Gruppen um »Kriminelle” oder Angehörige »krimineller Gruppen” handelt, ist dann nicht mehr das Entscheidende, sondern nur noch ihr (kriminogener) Aufenthaltsort. Die präventive Logik des Zugriffs auf sie ist damit noch abstrakter: Wenn die rein physische Eigenschaft der Lage im Raum ausreicht, um den Zugriff zu rechtfertigen, dann ist vom Sozialen vollständig abgesehen. Diese Naturalisierung qua Raumfetischismus, demzufolge die abstrakte Lage im Raum eine kausale Wirkmächtigkeit auf die dort vorzufindenden gesellschaftlichen Phänomene hat, ist von Vertretern der Radical Geography frühzeitig und treffend kritisiert worden (Anderson 1973, Smith 1981). Wenn dieser Raumfetischismus, wie in den Beispielen aus I., zur Grundlage von Kriminalpolitik gemacht wird, wenn also für den staatlichen Zugriff die Anwesenheit in einem bestimmten Raumausschnitt ausreicht und so die Verdrängung aus ihm ein Mittel von Kriminalpolitik wird, dann sind die gesellschaftlichen Verhältnisse vollkommen außen vor. Deshalb, weil so also von der sozialen Produktion von Abweichung und Kontrolle abgesehen wird, kann auch der Zweck der räumlichen Herangehensweise nur im noch präventiveren Zugriff liegen. Denn keine der in I. diskutierten Maßnahmen interessiert sich auch nur im geringsten für das warum von Abeichung und Störung, sondern eben nur für das wo.
Die Legitimationsideologien räumlicher Kriminalpolitik liefern Wissenschaftler, wenn sie einen kausalen Zusammenhang vom Zustand eines Raumausschnittes und der durch ihn hervorgebrachten Kriminalität behaupten. Zu nennen wären hier die nicht klar voneinander zu trennenden Ansätze der Kriminalgeographie und der Sozialökologie.
Die Kriminalgeographie als kriminologischer Theorie, d.h. zur Erklärung von Kriminalität (und nicht nur ihrer Verteilung), »konzentriert sich in ihrer Betrachtung auf die strukturellen und funktionellen Elemente des Raumes, (…) um sie sodann zu den Teilen der Kriminalität in Beziehung zu setzen, die vom Raum ausgelöst oder angezogen werden (Herold 1977: 292; Herv. B.B.). Hier fungiert der Raum also als Explanans, der die Kriminalität »auslöst« (vgl. Belina 2006: 126-132). Damit verfällt dieser Typus von Argumentation dem Raumfetischismus, d.h. dem physischen Raum werden Eigenschaften und Wirkmächtigkeit auf das Soziale zugesprochen, die für die Erklärung vom Sozialen komplett abstrahieren.
Sozialökologische Argumentationen gehen davon aus, dass es unabhängig von den sie bevölkernden Personen »irgendetwas an Orten als solchen geben muss, dass sie Kriminalität aufrecht erhalten lässt« (Stark 1987: 893). In der Tradition der Chicagoer Schule unterstellen sie «natural communities« als Resultat quasi-natürlicher Prozesse in der Stadt (zur Kritik vgl. Frieling 1980) , die unter bestimmten Bedingungen zu «delinquency areas« (Shaw/McKay 1972), «criminal areas« (Morris 1971) oder «deviant places« (Stark 1987) werden. Auch hier liegt also eine raumfetischistische Argumentation vor. Weit erfolgreicher als diese Varianten ist zur Begründung verräumlichter Polizeiarbeit in den letzten Jahren die Broken Windows-These (vgl. Belina 2006: 135-155).
Zusammenfassend lässt sich zur Kriminalisierung von Raumausschnitten festhalten, dass ihre zentrale Abstraktion darin besteht, dem physischen Raum kriminogene Wirkung zuzuschreiben und damit vom Sozialen abzusehen. Der Aufenthaltsort i.S.v. Lage und Distanz genügt dann, um kontrolliert zu werden. Das ist präventiv, weil somit alle in den Fokus geraten, die sich in einem kriminalisierten Raumausschnitt aufhalten, unabhängig davon, ob sie sich etwas haben zu Schulden kommen lassen, als »kriminell« gelten oder einer »kriminellen Gruppe« angehören. Wissenschaftliche wird diese Abstraktion mittels sozialökologischer und kriminalgeographischer Theorien ideologisch legitimiert.
Bernd Belina
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