»…blieben amerikanische städte jahrhunderte lang hinter denen europas zurück«[1]
Verschwörungstheorie und Antimodernismus in der linken Kritik der Innenstadtpolitik
Die Kritik an der Innenstadtpolitik war in den letzten Jahren ein wichtiges Aktionsfeld der bundesdeutschen Linken. Wie auch bei anderen kampagnenorientierten und auf einen gesellschaftlichen Aspekt fokussierten Bewegungen weist die theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema – wo sie überhaupt vorgenommen wird – etliche Mängel auf. Im folgenden soll es um einige davon gehen, vor allem um den weit verbreiteten Antiamerikanismus, der antimodernen Verklärung der Vergangenheit, verschwörungstheoretischen Herrscher-Beherrschte-Dichotomien und das Abfeiern einer vermeintlichen subversiven Gegenkultur.
»Amerikanischer Kulturimperialismus«
Der Text »die straße und ihre bedeutung in der stadt«[2] vom Herausgeber des Buches »Street Art. Die Stadt als Spielplatz« versammelt auf rund 30 Seiten so gut wie alle antiamerikanischen Ressentiments, die den Deutschen so eigen sind. Der Autor versteht sich als progressiv und will mit seinem Text die europäische Stadt (die wirklich so schön wäre, wie die ausgiebig zitierte Tourismusindustrie behauptet) vor den amerikanischen Einflüssen bewahren. »in den vereinigten staaten entwickeln sich städte zu unstädten. konsumtempel, riesige bürogebäude und wohnblocksiedlungen bilden hier die basis der stadtentwicklung. humanistische traditionen, oder auch nur einfache selbstachtung dienen nicht als bremse gegen den unendlichen raubbau.« Der Amerikaner sei habgierig, geschichts- und kulturlos. »in new york schienen sich die menschen nur zu einem zweck anzusiedeln – um geld zu machen«. Europäische Kaufleute seien kreativ und schöpferisch und hätten mit Athen, Florenz, Amsterdam oder Stockholm bleibende Kulturgüter geschaffen, die Menschenliebe ausstrahlen und soziale Kommunikation ermöglichen würden; amerikanische Kaufleute hingegen hätten nur langweilige, am Reißbrett entworfene, hässliche, autogerechte und menschenleere Straßen hervorgebracht, die durch Werbeschilder entstellt würden, deren einziger Vorteil es sei, dass sie ohne Mühe wieder zu zerstören seien: »mit ein wenig glück wird so die nachwelt niemals erfahren, wie minderwertig sie waren. verderblichkeit ist die qualität ihrer architektur.« Aber nicht nur das – amerikanische Städte hätten lange nicht den europäischen hygienischen Standards entsprochen und erst als man aus Scheiße Geld machen konnte, hätte der Gestank aufgehört. Aber noch heute seien die Straßen mit Verpackungsmüll verdreckt. Die meist amerikanischen Kronzeugen dürfen Sätze beisteuern wie: »mann kann die niederländischen dienstmädchen die straßen mit mehr hingabe reinigen sehen, als die unsrigen es mit unseren schlaffzimmern tun.« Wozu auch die Straßen säubern? »in los angeles wird jemand, der ohne hund herumläuft, als herumtreiber angesehen.« Ganz anders in Europa: »in italien kann nur der mangel an anstand dazu führen, sich dem täglichen corso fern zu halten.« Die Europäer lieben ihre Straßen, denn die schönen Straßennamen – geographische Bezeichnungen, »klangvolle blumen oder obstsorten«, »planeten« – ermöglichen es ihm, »sich in der landschaft zu verwurzeln«, »ein gefühl der naturverbundenheit vermittelt« zu bekommen bzw. am »technischen fortschritt« teilzuhaben. »in amerika hat diese art der benennung keinen anklag gefunden.« Die »zahlen und nummernsysteme« in den USA würden »eine gewisse gleichgültigkeit und monotonie« ausstrahlen. Doch Widerstand tut not: Das amerikanische System wird die heile Welt in Europa zerstören. Die Basare (die wohl eher im orientalischen Raum zu verorten sind) müssten dann Wal Mart weichen. Hin wäre der Charme der Regionalwirtschaft: »frisch geerntetes obst und gemüse, wunderschöne blumen und fische, die noch nach meer riechen. all dies ist unberührt von konservierungsstoffen und etiketten. der verkäufer hat keine registrierkasse, da er alles im kopf rechnet. die angebotene ware schreit er laut über den platz. […] papier kann mit der dreistesten lüge daherkommen, während ein erfahrenes ohr die falsche note in der stimme erkennt.« Während die Europäer ihre hingebungsvolle Liebe zu ihren Straße in den Straßencafés zelebrieren, zieht es der Ami vor »das frühstück im bett oder zumindest im zimmer einzunehmen«.
Der Autor dieses Machwerks muss sich nicht etwa wegen §130 StGB (Volksverhetzung) vor Gericht verantworten, sondern durfte diese »kunsthistorische Abhandlung« an der Hochschule für Kunst und Design in Halle einreichen und sich in seiner Freizeit weiterhin um die Vernetzung und Förderung der hiesigen Street Art- und Graffiti-Szene kümmern.
Während hier der Antiamerikanismus auf der Hand liegt, ist er in den meisten Texten nur schwer zu entschlüsseln. Viele Texte beziehen sich zurecht auf die USA, weil dort bestimmte Entwicklungen (Gated Communities, Shopping Malls, Segregation, Gentrifizierung) besonders weit vorangeschritten sind. Oft überzeichnen sie jedoch die amerikanischen Verhältnisse, verharmlosen europäische Entwicklungen oder stellen sie jenen sogar als positives Gegenbeispiel gegenüber.
Ein weiterer Aspekt des indirekten Antiamerikanismus folgt aus der Tatsache, dass die kritische amerikanische Stadtforschung eine führende Stellung einnimmt. Deutsche Wissenschaftler beziehen sich somit zwangsläufig eher auf amerikanische Untersuchungen, weil andere zum Teil gar nicht vorliegen. Dadurch entsteht der Eindruck, in der USA sei die Vertreibung von Randgruppen und die Privatisierung öffentlicher Räume erfunden und von dort in die ganze Welt exportiert worden. In den einschlägigen Publikationen ist immer wieder von der broken windows theory und dem zero tolerance-Konzept zu lesen, die nun von deutschen Ordnungspolitikern und Polizeibehörden aufgegriffen würden. Völlig unterbelichtet bleibt dabei die deutsche Kontinuität von polizeilichen Ordnungsvorstellungen, die vom Deutschen Kaiserreich über den Nationalsozialismus bis in die heutige Zeit weitaus wirkungsmächtiger ist als die vermeintlichen amerikanischen Importe.
Intellektuelle Schützenhilfe holt man sich hierzulande gern von amerikanischen Stadtforschern, die wegen ihres fanatischen Antiamerikanismus und Antimodernismus bei uns bekannter sind als in ihrer Heimat. Der wichtigster Vertreter ist der auch in der deutschen Linken ausgiebig rezipierte Mike Davis.[3]
Früher war alles besser
Die Kritik an aktuellen stadtpolitischen Entwicklungen geht meist mit einer Verklärung der Vergangenheit einher. Der schleichende Verlust von öffentlichen Räumen und die zunehmende Überwachung wird beklagt. Der verschwörungstheoretische Hang, alles auf eine Katastrophe zutreiben zu sehen, weil dunkle Mächte langsam die Oberhand gewinnen, macht sich auch in dieser linken Teilbereichsbewegung bemerkbar. Eine historische Analyse von den sich wandelnden Formen der Innenstadtpolitik findet kaum statt. Auch eine Rückbindung an andere gesellschaftliche und ökonomische Prozesse, die erklären könnten, warum z.B. die Kriminalisierung des Bettelns, deren Verankerung im Strafgesetzbuch erst in den 70er Jahren aufgehoben wurde, nun wieder Eingang in die Stadtverordnungen findet, unterbleibt.
Dies führt stellenweise zu romantisierenden Vorstellungen von einem Leben ohne Werbung und Konsumtempeln, ohne Vertreibung und Überwachung, von einer demokratischen Stadtöffentlichkeit und sozialem Ausgleich – wie es jedoch nie oder nur in regressiver Form bestanden hat.[4] Der Rückzug staatlicher und regionaler Eingriffe aus der Stadtplanung wird hinterhergetrauert, obwohl die größten architektonischen »Verbrechen« zu Zeiten der staatlichen Großplanung – in Ost wie in West – entstanden. In die berechtigte Kritik an sozialen Ausschlüssen mischen sich immer wieder antimoderne Ressentiments und Technikfeindlichkeit. Statt die Technik als zeitgemäße Form der Herrschaftssicherung zu begreifen, macht sich Paranoia wegen RFID-Chips und Videoüberwachung breit.
Die Opfer: Das Volk
Die linke Kritik an Überwachung und Innenstadtpolitik konzentriert sich auf die staatlichen Institutionen und die Wirtschaft, die gegen die Interessen der Bevölkerung ihre Maßnahmen durchsetzen würden. Getrieben seien sie dabei von ihrem Kontrollwahn und der Geldgier. Wenn, was selten genug der Fall ist, die Kriminalitätsfurcht und Vorliebe für deutsche Sekundärtugenden innerhalb der Bevölkerung zur Sprache kommt, wird dies meist mit der Manipulation durch die Medien erklärt. An sich sei die Bevölkerung gut und und werde zum Opfer der fiesen Machenschaften der Herrschenden. Dass Videoüberwachung von vielen gewollt wird, die liebste Freizeitbeschäftigung der Besuch einer Shopping Mall darstellt und Sprayer noch härter verfolgt würden, wenn die Straf- und Vernichtungsphantasien der Deutschen nicht durch rechtsstaatliche Vermittlungsformen gebremst würden, ist nie Thema. Dabei reicht ein Blick in die Leserbriefspalten der lokalen Tageszeitung, um zu erahnen, warum die Polizei mehr Befugnisse erhält und die Städte vom »Abschaum« gesäubert werden. Es ist nicht in erster Linie der Repressionsapparat, der das Volk unterdrücken will, sondern es sind die dumpfen Ressentiments aus dem Volk, welche die Politik zwingen, zumindest teilweise deren Forderungen nachzugeben. Dort, wo das Volk der Meinung ist, die Politik tue nicht genug für Ordnung, Sauberkeit und Sicherheit, greift es kurzerhand zur Selbstjustiz. Das ärgerliche daran ist, dass dabei nicht etwa freiwillige Straßenkehrerbrigaden aufgestellt werden – was zwar spießig, aber recht harmlos wäre – sondern Bürgerwehren gegründet. Oder es wird gleich ein Pogrom veranstaltet.
Aber auch die individuellen Formen der völkischen »Selbstverteidigung« haben es in sich. In 90% der Fälle nimmt die Polizei Ermittlungen wegen kriminellen Vorfällen auf, weil sie von der Bevölkerung alarmiert wurde oder eine Anzeige erhalten hat. Nur 10% gehen auf Entdeckungen durch die Polizei selbst zurück.[5]
Man denunziert sich eifrig gegenseitig. Ein Beispiel: Die Sozialämter in der Region erhalten regelmäßig Post aus der Bevölkerung, in denen darauf hingewiesen wird, dass Nachbar XY schon wieder ein großes Paket bekommen oder etwas gekauft habe. Das Amt möge prüfen, ob die Person eventuell staatliche Sozialleistungen beziehe und die ungewöhnlichen Luxusgüter (z.B. ein neues Handy) zu unrecht erworben wurden. Die meisten solcher Beschwerden, die vor Sozialneid nur so strotzen, erweisen sich als haltlos. Es wird nicht mal davor zurückgeschreckt, die eigene Verwandtschaft anzuschwärzen.[6]
Weil sich generell viele Anzeigen und Beschwerden aus der Bevölkerung gegenüber Polizei, Justiz und Behörden als haltlos erweisen, wird ihnen oft gar nicht erst nachgegangen. Das vergrößert dann jedoch wieder nur den Frust und die Staatsverdrossenheit – und befördert die Tendenzen zur Selbstjustiz.
Die Räte zur kommunalen Kriminalitätsprävention und die Schaffung unbewaffneter Bürgerstreifen sind auch eine Reaktion darauf, nämlich der Versuch, den Drang der Bevölkerung, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, institutionell einzubinden, zu besänftigen und zivilgesellschaftlich zu veredeln. Von der Linken werden solche Entwicklungen jedoch als besonders perfide Strategie der Herrschenden entlarvt, statt anzuerkennen, dass der Nazi, der in der Straßenbahn alten Omas hilft und Taschendieben nachstellt, besser ist als der Nazi, der Flüchtlingsheime anzündet.
Statt in der Praxis die tendenziell faschistischen Momente der gegenseitigen Überwachung und Denunziation anzugreifen und sich theoretisch mit deren Fortleben seit dem Dritten Reich zu beschäftigen, wird dies meist ignoriert bzw., was noch schlimmer ist, der Faschismus als Negativfolie herangezogen, um vor dieser zu behaupten, die staatliche Repression wäre heute noch umfassender und schlimmer als damals, nämlich »wirksamer als die Nazi-Überwachung […und ] erfolgreicher als […] die Organisation der NSDAP mit ihren Haus- & Blockwarten«.[7]
Die Täter: Spekulanten, Bullen, Konzerne, Bonzen
Wenn das gemeine Volk also von jeglicher Schuld freigesprochen wird, muss »das Böse« woanders zu finden sein. Und tatsächlich ist in der Literatur ausgiebig von profitgeilen Konzernen, umherschweifenden Spekulanten, perfiden Bullen sowie den politischen bzw. wirtschaftlichen Eliten die Rolle, die unser Leben beschränken, lenken und unterdrücken würden. In der eher soziologisch angehauchten Variante werden die Spekulanten natürlich nicht als solche bezeichnet, sondern mit den passenden Fachbegriffen umschrieben. Der Autonome hingegen sprayt kurzerhand »Miethaie zu Fischstäbchen« an die Wand. Die Kritik läuft aber am Ende auf das Gleiche hinaus: nicht dem Gemeinwohl verpflichtete, neuerdings wieder als Heuschrecken bezeichnete Finanzmakler aus dem Ausland, begreifen Wohnen nicht als Menschenrecht sondern nur als beliebige Ware. Eine Kritik an den Grundlagen kapitalistischer Vergesellschaftung ist damit nicht intendiert. Vielmehr wird sich ein Aspekt herausgegriffen, personalisiert und mit moralischen Begriffen skandalisiert. So heißt es im Themenschwerpunkt »Kolonie Ostdeutschland« der Zeitschrift telegraph über »Grundstückverwertungsgesellschaften und Investorenfonds«: »In ihrer Anonymität und Rationalität sind sie in ihrer sozialen Verantwortung nicht mehr direkt mit den Bewohnern konfrontiert.«[8] Außerdem wird beklagt, dass die Unfähigkeit der Wessis, die die ehemalige DDR kolonialisiert hätten, dazu geführt habe, dass im Osten nun überall »überdimensionierte Kläranlagen […], unzählbare Golfplätze […], überdimensionierte Einkaufszentren am Rande jeder Kleinstadt und die meist ungenutzten Büros der Abschreibungsbauten in den Innenstädten« herumstehen würden. Hätten die Gemeindevertreter oder gar das Ossi-Volk selbst entscheiden dürfen, wäre dies nicht passiert.[9] Das mag sogar stimmen. Den Einheimischen reicht nämlich in der Regel eine Tankstelle zum Abhängen, eine verlassene LPG zum Foltern und eine kleine Jauchegrube, um die Leichen zu entsorgen.[10]
Oft wird so getan, als ob der ortsansässige Vermieter, der vielleicht sogar noch im Haus wohnt, oder der Ladenbesitzer vom Tante Emma-Laden auf der anderen Straßenseite den Marktgesetzen weniger unterworfen wäre und menschlicher agieren würde. Dabei kann jedoch gerade auch die Größe eines Unternehmens gewisse zivilisatorische und rechtsstaatlichen Standards ermöglichen, denen sich der kleine Privatkapitalist nicht verpflichtet fühlt. Die Überwachung und Säuberung der Innenstädte geht nicht ausschließlich, wie oft behauptet wird, von den großen Handelsketten aus, sondern wird maßgeblich von den kleinen Gewerbetreibenden vorangetrieben, die sich weit mehr als ein weltweit agierender Konzern von herumlungernden Bettlern in ihrem Umsatz beeinträchtigt sehen.
Dann gibt es wiederum strukturelle Prozesse, die nur sehr wenig mit den Entscheidungen einzelner Personen zu tun haben, aber selbst von etablierten Wissenschaftlern gnadenlos personalisiert werden. So spricht der Stadtforscher Prof. Dr. Neil Smith von der Gentrifizierung als revanchistischen Prozess, bei dem sich die gehobene Mittelschicht gezielt und als Rache für die sozialen Bewegungen der 70er Jahre die Innenstädte zurückerobert (oder wie er es ausdrückt: »re-kolonialisiert«). Es handele sich dabei um eine »durchdachte und systematische Stadtentwicklungspolitik großen Maßstabs«, bei der die Studenten als Vorhut fungieren.[11]
Der heldenhafte Widerstand
Der vielfältige Widerstand meint auf der richtigen Seite zu stehen, das Volk im Rücken zu haben – und kämpft trotzdem erfolglos gegen die Windmühlenflügel der herrschenden Ordnung an.
Da gibt es die Anti-Kamera-Gruppen in jeder Stadt, die vor den Gefahren der Videoüberwachung warnen, obwohl sie einerseits wissen, dass dadurch die Kriminalität nicht sinkt (wie sie regelmäßig betonen) – die befürchtete Normierung der Gesellschaft also nicht eintritt –, und anderseits das Videomaterial so umfangreich und nichtssagend ist, dass es die Behörden bei ihrer Arbeit mehr behindert als hilft. Vor allem werden sie aber nie begreifen, dass die Kameras niemanden stören, da 99% der Menschheit kein Problem damit habt, gefilmt zu werden. Ganz im Gegenteil beweist ein Blick ins Web 2.0, in die nachmittäglichen Fernsehshow oder Superstar-Wettbewerbe, wie weit der Wunsch zur öffentlichen Selbstentblößung schon fortgeschritten ist.
Mit den kritischen Diplomarbeiten der linken Soziologiestudenten über Shopping Malls und die Verödung der Innenstädte erstellen sie gleichermaßen ihre Bewerbungsschreiben für den öffentlichen Dienst – denn mit dieser Haltung gehört man mittlerweile zum Mainstream und macht sich gut auf dem Posten eines unbequemen Baustadtrates oder eines sozial engagierten Mitarbeiters einer Quartiersmanagement-Initiative.
Die Innenstadtaktionsgruppen veranstalten illegale Raves, Aktionstheater in Bahnhöfen und Flashmobs. Von den betroffenen Behörden und Personen werden sie in der Regel noch angefeindet, von den Medien jedoch bejubelt, stehen sie doch für jugendliche und kreative Urbanität, also etwas, was sich heute jede Großstadt gern auf ihre Fahnen schreibt. Auch die Sprayer und Street Art-Künstler gebärden sich gerne konsumkritisch und oppositionell; vor allem die Graffitiszene zehrt vom Bonus der nicht unerheblichen Kriminalisierung. Am Ende trägt diese Form der subversiven Kunst auch nur zur Verschönerung des Stadtbildes und damit zur schleichenden Gentrifizierung bei.[12] Dieser Nebeneffekt wird sogar offen eingestanden, aber »jede art von veränderung kann erst mal positiv wirken«.[13] Und etwas anderes als die Versöhnung der lieben Menschen mit ihrer kalten Umwelt scheint auch gar nicht intendiert zu sein. Viele Street Art-Künstler wollen der bösen Werbung schöne Bilder entgegensetzen, mit denen sich die Passanten identifizieren können. Es wird »eine gesunde mischung der visuellen erscheinungen«[14] angestrebt und beklagt, dass die »unpersönliche Überfüllung der Städte mit unpersönlichen Bildern und Zeichen […] die Menschen an der Entwicklung eines persönlichen Bezugs zu ihren Städten«[15] behindere. Kunst im öffentliche Raum soll deswegen »den bewohner der stadt mehr und mehr mit seiner umwelt vertraut machen und ihm helfen, sich mit seiner stadt zu identifizieren.«[16] Diese Form von alternativen Lokalpatriotismus findet sich in vielen Texten von bzw. Interviews mit Street Art-Künstlern. Ein Teil der Sprayer-Szene distanziert sich davon, weil er sich nicht so schamlos Gesellschaft anbiedern will. Der rebellische Habitus verschleiert jedoch die Tatsache, dass die Graffiti-Kultur mehr ein überspitztes Spiegelbild der Gesellschaft darstellt, als in irgendeiner Weise subversiv zu sein. Erlebnisberichte aus dem Internet oder in der ethnologischen Fachliteratur [17] zeichnen das Bild einer machistischen Gangkultur mit Selbstdarstellungszwang, die mehr an Fight Club erinnert als an Land and Freedom. – Am Ende landen sie entweder im Gefängnis oder in der Galerie – und träumen weiter ihren großen Traum: »Viele Ketten die uns in unserer freien Entfaltung behindern sind zu zerreißen. Wir müssen neue Wege gehen, von denen wir noch nicht wissen wohin sie führen werden. […] Etwas kann sich ändern auf dieser Welt wenn wir alle dies wollen und daran mitarbeiten.«[18]
Mark Schneider
[1] Christian Heinicke: die straße und ihre bedeutung in der stadt, http://www.km4042.de/downloads/strasse.pdf, 11.
[2] Ebd., alle weiteren Zitate ebenfalls aus diesem Text. Kleinschreibung im Original.
[3] Siehe vor allem seine Bücher City of Quartz, Casino Zombies und Planet der Slums.
[4] »Ein weiteres, zentrales Problem […] ist die Vorstellung der Existenz eines demokratischen öffentlichen Raumes, der unter dem Druck einer mächtigen Allianz aus Eigenheimbesitzern, Bauunternehmern und konservativen Naturschützern zerstört wurde. […] Der öffentliche Raum als jederzeit für jedermann zugänglicher Raum hat ebenfalls noch nie in irgendeiner Stadt existiert. Er ist immer auch exklusiver Raum.« Boris Michel, Stadt und Gouvernementalität, Münster 2005, 56–57.
[5] Werner Lehne, Zu den Konstruktionsprinzipien der polizeilichen Kriminalitätsstatistik am Beispiel der Jugendkriminalität, in: Wilfried Breyvogel (Hrsg.), Stadt, Jugendkulturen und Kriminalität, Bonn 1998, 157.
[6] Leipziger Volkszeitung vom 27.07.1999, zitiert nach: »Arbeit macht frei«, in: CEE IEH 63/2000, http://www.conne-island.de/nf/63/17.html.
[7] Gerd E. Hoffmann, Der Bürger auf der Datenbank, in: Freimut Duve (Hrsg.), Technologie und Politik, Reinbek 1975, 78–79.
[8] Andrej Holm, Kolonie DDR – Zur ökonomischen Lage in Ostdeutschland, in: telegraph 01/1998, 20, http://www.telegraph.ostbuero.de/1-98/inhalt1_1998.htm.
[9] Ebd., 21–22.
[10] Astrid Geiermann, Der oder ein anderer. Marinus Schöberl wurde von rechtsextremen Jugendlichen ermordet, weil er die falsche Hose trug, in: Jungle World 49/2002, 16, http://www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_2002/49/16b.htm.
[11] »Der Zusammenschluss zwischen Anti-Gentrifizierungskämpfen und den Aktivitäten der weltweiten Bewegung für soziale Gerechtigkeit kann extrem bedrohlich werden«. Interview mit Neil Smith, in: MieterEcho 324/2007, http://www.bmgev.de/mieterecho/324/09-gentrifizierung-neil-smith.html.
[12] Siehe dazu auch den Beitrag von Matthias Bernt, Kunst und Kapital, in dieser Broschüre.
[13] camp kleister II, http://www.km4042.de/index.php?category=projekte&page=18.
[14] Ebd.
[15] Camp Kleister, Tafeltheorie, http://genausoundanders.de/main.php?subjekt=oben3_4.
[16] Startseite von KM4042, http://www.km4042.de.
[17] z.B. Henning Müller/Guido Jäger, Leben mit der Dose. Über Jugendliche in der Graffiti-Szene, in: Breyvogel, Stadt, Jugendkulturen und Kriminalität.
[18] Felix Koltermann, Street Art in Italy – A revolution of signs, http://www.ak-47.de/theory/felix.k.html (Rechtschreibung im Original). Solche schwülstigen Texte sind jedes Mal unter der Rubrik Theorie zu finden, was sich nur erklärt, wenn man weiß, dass die andere Rubrik jeweils nur Fotos heißt und die künstlerischen Arbeiten dokumentiert.