»Wenn Leipzig nicht Dornröschen ist…«
Ökonomie – Kultur – Stadt: Kulturelle Raumaneignung am Beispiel Leipzigs
Kulturelle Netzwerke und Raum
Im Mai 2007 veröffentlichte das Leipziger Stadtmagazin Kreuzer die Titelstory »Wir sind die Stadt!«. Das »Wir« bezieht sich auf Subkulturaktivisten, Künstlerinnen, Betreiber von Szeneläden, auf Nachbarschaftswerkstätten, Jugendprojekte und Bürgervereine. Gemeint sind Menschen, die an ihren »persönlichen Visionen« bauen und dafür die in Leipzig vielfach vorhandenen »Freiräume zur Selbstverwirklichung« nutzen (Kreuzer 05/2007: 12ff.). In Leipzig blühe eine heterogene und kleinteilige Nischenökonomie, welche die Stadt viel nachhaltiger und positiver präge als die wenigen prestigeträchtigen Großprojekte. Der Blick der Politik müsse sich nach gelungener Ansiedlung global agierender Firmen und gescheiterter Olympiabewerbung von der Weltbühne wieder zurück auf die Stadtteile richten. Denn das »kreative Heer der Träumer, Spinner, Lebenskünstler und Idealisten« hauche Leipzig »den viel gepriesenen frischen Atem ein« (ebd.: 16). Dass die meisten dieser Selbstverwirklicher ein Leben am Rande der Existenz führen, bleibt von den Autoren der Titelstory nicht unerwähnt. Dennoch sei Leipzig eine besonders gute Stadt für diese Akteure, denn »die prekäre Situation« gehe aufgrund niedriger Lebenshaltungskosten »mit einem guten Lebensgefühl« einher (ebd.: 15): »Leipzig fühlt sich trotz schlechter Wirtschaftsdaten dynamisch an. (…) Es lebt sich so komfortabel in dieser Nische, dass der Anschluss an die ‚große‘ Ökonomie gar nicht erforderlich ist. Während andernorts alle Zeit und Kraft dafür draufgeht, die Miete zu verdienen, bleibt hier viel Raum für Entwicklung und persönliche Lebensqualität« (ebd.).
Die Kreuzer-Titelstory, die im Folgeheft (Kreuzer 06/2007) durch einen Gastkommentar des Geografen Bastian Lange vom Leibniz-Institut für Länderkunde zur »kreativen Wissensökonomie« Leipzigs aufgegriffen wird, darf als gezieltes Einmischen in die Imagepolitik der Stadt verstanden werden. Lange betont mit Verweis auf den US-amerikanischen Bestsellerautor Richard Florida (2004) die Wichtigkeit eines »kreativen und innovativen Milieus« für das Wachstum einer Stadt und fordert neue Koalitionen zwischen Kulturpolitik und Wirtschaftsförderung, um den »kreative[n] Ausgangshumus« Leipzigs bestmöglich zu »befördern« (Kreuzer 06/2007: 7). Dem historisch-hochkulturell inspirierten Leitmotiv der Stadtvermarkter (Stichwort: Musikstadt, vgl. Stadt Leipzig 2006) werden die als weitaus stadtprägender empfundenen kleinteiligen und selbstorganisierten Initiativen in Leipzig entgegen gesetzt: »Leipzig entwickelt sich von unten, und Leipzig wird von oben entwickelt – nur will beides momentan nicht zusammenpassen« (Kreuzer 05/2006: 3).
Ausgangspunkt der folgenden Reflexionen ist dieses »Leipzig von unten«. Im Fokus stehen die Akteure der lokalen Kulturwirtschaft, somit die Betreiber von Clubs, von selbstkuratorisch bespielten Ausstellungsräumen und Galerien, die Initiatorinnen lokaler Filmprojekte und (Pop)Musikevents sowie an freie Architektinnen, Autoren und Künstlerinnen. Die Projekte und Initiativen dieser Akteure haben häufig temporären Charakter. Gruppen formieren sich für eine Filmproduktion, eine Bandgründung, eine Clubshow, ein zweiwöchig betriebenes Café, eine künstlerische Intervention oder die Aufnahme eines Hörspiels und lösen sich nach Beendigung des Projektes wieder auf. Als Potentialität aber existieren sie weiter: Man bleibt in Kontakt, behält unter Umständen sogar das gemeinsame Label und wenn sich ein neues Projekt ergibt, kommt man wieder zusammen oder bildet neue Kooperationen. Auf diese Weise entstehen kulturelle Netzwerke.
Um sich gesellschaftlich zu verorten, so meine Annahme, wenden die Akteure dieser kulturellen Netzwerke symbolische, soziale, ökonomische und letztlich räumliche Praktiken an. In der Stadtsoziologie richtete man in den letzten Jahren das Augenmerk verstärkt auf die räumlichen Arrangements der Gesellschaft (vgl. z.B. Berking 1998; Noller 2000; Schroer 2006). Diesem »spatial turn« liegt die Einsicht zugrunde, dass Gesellschaft nicht allein in ihrer Historizität, in ihrem Gewordensein entzifferbar ist, sondern auch über die Räume, die sie hervorbringt, verstanden werden muss. Sozialtheoretisch basieren die folgenden Ausführungen auf Anthony Giddens’ Konzept der »Dualität von Struktur« (Giddens 1988), das Martina Löw raumsoziologisch zu einer »Dualität von Raum« (Löw 2001) weiterentwickelt hat. Der Grundgedanke ist, dass Individuen als soziale Akteure handeln (und dabei Räume herstellen), ihr Handeln aber von gesellschaftlichen und räumlich-materiellen Strukturen abhängt. Räume sind somit das Resultat von Handlungen, gleichzeitig strukturieren Räume Handlungen, das heißt Räume können Handlungen sowohl begrenzen als auch ermöglichen, was auf der Mikroebene von Gesellschaft ebenso gilt wie auf der Makroebene.
Dornröschen und die Ökonomie der Symbole
In Städten vornehmlich der westlichen Hemisphäre lassen sich Mechanismen und Paradoxien eines scheinbar entmaterialisierten, kulturell angereicherten Kapitalismus beobachten. Sharon Zukin hat dafür den Begriff der »Ökonomie der Symbole« (1998) geformt und die Aufladung räumlicher Arrangements mit kulturellen Werten untersucht. Die Ökonomie der Symbole basiert auf der Produktion, Distribution und Konsumption von immateriellen Gütern, das heißt von Bildern, Emotionen oder Atmosphären mit dem Ziel der ökonomischen Wertsteigerung der damit verknüpften (materiellen) Orte bzw. Städte (vgl. Kirchberg 1998: 46f.). Zukin beschreibt die Ökonomie der Symbole als permanente Auseinandersetzung um Repräsentationen politischer und ökonomischer Macht. Erfolgreiches Stadtmarketing zeichnet sich dadurch aus, dass die kulturellen Werte einer Stadt gekonnt visuell verdichtet und mit erwünschten gesellschaftlichen Zielen gekoppelt werden. So gilt etwa die Skyline von Frankfurt am Main noch immer als Symbol für ökonomisches Wachstum und internationale Steuerungsfunktion, genauso wie Manhatten für riesige Wolkenkratzer und Neonreklamen steht oder Paris für Straßencafés, kleine bunte Läden mit großen Schaufenstern und Gemälde von unschätzbarem Wert im Louvre (Zukin 1998: 29). Dass sich die gesellschaftlichen Werte solcher Images historisch wandeln, zeigt das Beispiel der Wolkenkratzer. In den 1930er Jahren sieht man in ihnen Topographien der Macht und Entfremdung, Ende des 20. Jahrhunderts symbolisieren sie Modernität und ökonomische Prosperität, nach den Anschlägen auf das World Trade Center am 11. September 2001 lösen sie bei vielen Menschen Angst aus und stehen auch für die Verwundbarkeit des globalen Finanzkapitalismus.
In den Imagewandel von Orten kann Stadtentwicklungspolitik zielgerichtet eingreifen. Für Leipzig lassen sich die Praktiken der diskursiven Verdichtung von Experten der Stadtplanung und des Stadtmarketings über das Bild von Dornröschen, also der schlafenden Schönheit, die auf den erweckenden Kuss wartet, beschreiben. Es geht dabei um das Leipzig nach 1989, das mal als »Boomtown des Ostens« – etwa über den Slogan »Leipzig kommt!« –, mal als Stadt mit expliziten Qualitäten für Selbstverwirklicher – wie im aktuellen Claim »Leipziger Freiheit« – inszeniert wird, immer aber als Stadt mit großen Potentialen, als unfertige Stadt, als Stadt in Entwicklung, die momentan vielleicht noch eine Außenseiterposition in der internationalen Städtekonkurrenz einnimmt, die aber hoch hinaus will und dabei an eine glorreiche Vergangenheit anschließt. Das imaginierte Potential der Stadt nährt sich aus der Bedeutung, die Leipzig vor dem Zweiten Weltkrieg schon einmal als wichtige europäische Industrie- und Handelsmetropole, als sogenannter »‚Klassiker‘ der europäischen Stadttradition« (Lütke Daldrup/Doehler-Behzadi 2004) mit damals mehr als 700.000 Einwohnern hatte, ein Potential, das aber – dem Dornröschen-Bild folgend – durch Krieg und DDR verborgen wurde und deshalb neu belebt werden soll. Mit dem Blick auf die Künstlerinnen und Angehörigen der sogenannten Kulturwirtschaft/creative industries steht im Folgenden eine Gruppe im Fokus, die zu den zentralen städtischen Symbolproduzenten gezählt wird. Zu fragen ist, wie die Akteure durch ihre alltäglichen Interaktionen, die als Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ihrer Praxis gelesen werden sollen, Räume herstellen und welche Deutungsschemata sie dabei mobilisieren.
Öffentliche Wohnzimmer. Neues zur Situation der Couchecke
Ein wichtiges Beispiel dieser Raumproduktionen sind Orte der Popkultur. Aus illegalen und halblegalen Wohnungspartys, wie sie bis Mitte der 1990er Jahre in Leipzig an der Tagesordnung waren, sind mehrere, bis heute existierende Clubs und Kneipen entstanden, die für die Akteure der Popkulturszene Leipzigs attraktive Orte darstellen. Die Anziehungskraft dieser Orte basiert auf einer wohnzimmertypischen Vergemeinschaftungsform, die ihren prägnantesten räumlichen Ausdruck in der »Dingkonstellation« der Couchecke (vgl. Warnke 1979: 676) findet. Der Kunsthistoriker Martin Warnke sieht in der Couchecke eine geschlossene, mit der familiären Gemeinschaft verbundene Zelle, die sich Ende der 1970er Jahre aufgrund neuer Möbel (wie Roll- und Kugelsessel) und Gesellungsformen (wie die der Wohngemeinschaft) aufzulösen beginnt. Im Clubkontext erlebt sie in den 1990er Jahren ein Revival. Ihrer ursprünglichen Bestimmung gemäß evoziert die Couchecke zwar immer noch Familiarität und Intimität – ob im Konzert vor dreißig, »wirklich musikinteressierten« Gästen, beim gemeinsamen Konsum von Quarkkuchen und Filmen oder in den Clubshows, die bekannte Fernsehformate in Live-Performances auf die Couch und damit ins unmittelbare Lebensumfeld der Besucherinnen holen. Im Clubkontext aber werden Werte wie Familiarität und Intimität ironisch gebrochen und in ihrer umcodierten Form öffentlich in Szene gesetzt. Die Couch wird zur Bühne. Für die Akteure entstehen dadurch Orte hoher Identifikation, die ich »öffentliche Wohnzimmer« nenne. Öffentliche Wohnzimmer sind im Sinne von Hans-Paul Bahrdt (1961) öffentlich, weil sie zweifelsohne Orte des Geld-gegen-Waren-Tausches sind, weil sie theoretisch allen zugänglich sind und weil sie Orte der gestenreichen, nämlich lässig-ironischen Inszenierung eines Stils oder Geschmacks darstellen, die eine relativ unverbindliche Kommunikation und Gruppenbildung ermöglichen. Öffentliche Wohnzimmer tragen gleichzeitig Kennzeichen des Privaten, weil sie eine Atmosphäre von Familiarität und Intimität erzeugen, weil dort Seelenfreundschaften kultiviert werden und sich Persönlichkeiten verwirklichen und ausprobieren können – und weil sich dort de facto eine »eng umgrenzte Nachbarschaft«, nämlich eine spezielle links-alternative Indie-Szene trifft (vgl. Otte 2007).
Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass die Akteure dieser Netzwerke nahezu nahtlos an kulturell-räumliche Praktiken der DDR-Alternativmilieus der 1980er Jahre anknüpfen. Parallel zur offiziellen Staatskultur der DDR entstand im Leipzig der 1980er Jahre eine Vielzahl selbstbestimmter Teilöffentlichkeiten in Form privater Lesekreise, intellektueller Debattierzirkel und Wohnzimmer-Happenings (vgl. ausführlich Grundmann/Michael/Seufert 1996). Das bekannteste Beispiel ist sicherlich die Galerie Eigen+Art, die am System vorbei, 1983 in der Dachgeschosswohnung des späteren Galeristen Gerd Harry Lybke gegründet wurde. Trotz des politischen und ökonomischen Umbruchs von 1989 zeigt sich eine erstaunliche Kontinuität der räumlich-kulturellen Praxis der halböffentlichen Wohnzimmeraktivitäten – heute übersetzt in den legalen Clubkontext –, deren wesentliche Ursache in der Materialität der Stadt vermutet werden darf: Sowohl in den 1980er wie in den 1990er Jahren waren die zentralen Stadtteile der Alternativ- bzw. Indiesubkulturen von starkem Verfall der gründerzeitlichen Bausubstanz geprägt, die abbruchreife Häuser, aber auch viele rechtliche und räumliche Freiheiten zur Selbstverwirklichung bereithielten.
»Philemon und Baucis und die Faust AG«
Ein zweites Beispiel setzt hinsichtlich der Materialität der Stadt am städtebaulichen Gegenmodell zur Gründerzeit an. Es geht um den Umgang mit dem Erbe der ostdeutschen Moderne in Leipzig. Ausgangspunkt der Betrachtung ist ein mit einfachsten Mitteln improvisiertes Puppentheater, aufgeführt von der Künstlergruppe general panel am 6. Dezember 2003 in einer öffentlich zugänglichen Eingangsnische des Brühl-Ensembles, jenem innerstädtischen Plattenbau-Komplex aus den 1960er Jahren, der nach der Wende wiederholt zum Objekt von Abrissspekulationen wurde und seit November 2007 tatsächlich abgebrochen wird. Zur Aufführung kamen Teile des fünften Aktes aus Goethes Faust II, in dem der Autor schildert, wie das greise Paar Philemon und Baucis von Faust umquartiert werden soll, weil der kleine Lindenhain, auf dem das Haus der beiden steht, einem gigantischen Bauprojekt Fausts – einem System kolossaler Dammbauten zur künstlichen Landgewinnung – weichen muss. Philemon und Baucis aber, die in ihrer bescheiden-ärmlichen Behausung glücklich sind, möchten nicht fort. Faust beauftragt daraufhin Mephisto mit dem »Umzugsmanagement« und das Unheil nimmt seinen Lauf.
In Einladungs-Emails und Flyern setzten die Initiatorinnen des Puppentheaters dieses Faust-Fragment in direkten Bezug zu den Problemen der Mieter des Brühl-Ensembles. Auch sie sollten mit durchaus zweifelhaften Methoden zum Auszug aus ihren über Jahrzehnte liebgewonnenen Wohnungen bewegt werden, damit der Plattenbau-Komplex einem großen Einkaufszentrum weichen kann. Der Faust-Akt thematisiert Heimat und den Wert einer gewachsenen Kultur. Das Puppentheater lässt sich als intentional-strategische »(An)Ordnung von sozialen Gütern und Menschen« (Löw 2001: 158) an einem ausgewählten Ort deuten. Die sozialen Güter sind der Plattenbau, die provisorische Puppenbühne und der »Philemon und Baucis«-Stoff, die Menschen sind die Puppenspieler, Bewohnerinnen und Zuschauer. Als Raum wirksam werden Martina Löw zufolge (An)Ordnungen allerdings erst dann, wenn sie aktiv durch Menschen verknüpft werden. Diese sogenannte »Syntheseleistung« entspringt Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsprozessen, die immer mit einem Akt des Selektierens verbunden sind. Die Platzierungspraxis der Künstlerinnen und Architekten kann intentional-strategisch genannt werden, weil diese gezielt und auf der Basis eines diskursiven Bewusstseins (nämlich der Reflexion raumtheoretischer Ansätze und künstlerischer Praktiken) in die städtische Raumproduktion eingreifen. In seinem improvisierten Charakter konstruiert das Puppentheater eine Situation, die den Ort, an dem es spielt, mit alternativen Lesarten und Syntheseleistungsangeboten auflädt – eine Strategie, die auf die situationistische Technik des détournement zurückgeht. Die alternativen Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsmodi, die mit dem Puppentheater aufgerufen werden sollen, beziehen sich auf die Entstehungszeit des Brühl-Ensembles. In den 1960er Jahren erlebte die DDR eine kurze Phase der tatsächlichen kulturellen Modernisierung, die ihren Ausdruck in Projekten vor allem junger Filmemacher, Schriftstellerinnen und Architektinnen fand, die jedoch bereits 1965 mit den Beschlüssen des 11. Plenums des SED-Zentralkomitees jäh beendet wurde. Vor diesem Hintergrund lassen sich die beschriebenen räumlich-ästhetischen Praktiken als Ausdruck eines Erinnerungskonfliktes lesen. Den Künstlern und Architektinnen geht es darum, eine Erinnerungspraxis zu etablieren, die das mit Leipzig verknüpfte Dornröschen-Bild zeitlich verschiebt. Im Gegensatz zur offiziellen Dornröschen-Erzählung, in der das Leipzig der Zwischenkriegszeit die schlafende Prinzessin ist, die wachgeküsst werden soll, betonen die Künstlerinnen und Architekten die Potentiale der 1960er Jahre, also jener Zeit, in der um die ostdeutsche Moderne gerungen wurde und – das ist entscheidend – in der sich eine junge Generation von Kulturproduzenten und Intellektuellen in Gesellschaft eingemischt hat.
Räume des Dazwischen
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Initialzündungen kultureller Aktivitäten vielfach in der Materialität der Stadt zu finden sind – ob in den verfallenen Gründerzeitvierteln, in denen sowohl in den 1980er wie in den 1990er Jahren die ersten halböffentlichen Wohnzimmeraktivitäten entstanden sind, oder in den Bauwerken der ostdeutschen Moderne, die eine Auseinandersetzung mit den 1960er Jahren provozierten. Auffällig ist, dass diese Aktivitäten in beiden Fällen in Nischen entstanden, womit ich vernachlässigte und unintendiert entstandene städtische Neben- und Resträume meine. Johanna Rolshoven (2000) verdeutlicht ihre Definition von Nische am Beispiel einer Brücke, die in ihrer Hauptfunktion einen Übergang schafft, dabei aber gleichzeitig auch einen Brückenunterraum produziert, der – normalerweise unbeachtet – manchmal Nutzungen erfährt, die von Seiten der Stadtplanung nicht vorgesehen sind, etwa als »Wohnung« für einen Obdachlosen. Rolshoven nennt diese Nischen »Zwischenräume«, die man auch als soziale »Räume des Dazwischen« beschreiben kann. Für Michael Wiedmer sind
»Übergangs- und Zwischenräume (…) dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht von den sozialen Interaktions- und Handlungsstrukturen beziehungsweise den normativen Regulationssystemen der vorherrschenden sozialen Räume erfasst oder sogar davon ausgeschlossen werden. Zwischenräume können daher sowohl als Freiräume und ‚Möglichkeitsräume‘, aber auch als Räume der Unsicherheit und Gefahr, als ‚Angsträume‘ empfunden werden« (Wiedmer 2003: 53).
Die von mir betrachteten Akteure suchen gezielt nach sozialen und materiellen Zwischenräumen in der Stadt und zwar in der von Wiedmer beschriebenen positiven Bedeutung als unregulierte, unbeachtete, vernachlässigte Frei- und Möglichkeitsräume, die sie zu Orten kreativer Experimente machen, was sich machttheoretisch auch als Ausgangspunkt einer versuchten Re-Codierung des sozialen Raumes interpretieren lässt. Zu beachten ist, dass sich die Akteure jedoch stets im von Widersprüchen und Paradoxien durchzogenen Feld einer Ökonomie der Symbole bewegen. Die Enteignung subkultureller Ausdrucks- und Protestformen, wie es beispielsweise im Guerillamarketing à la Nike (vgl. ausführlich von Borries 2004) deutlich wird, zeigt, dass die Räume im Dazwischen buchstäblich immer enger werden und infolgedessen stetig um sie gerungen werden muss.
Silke Steets
Literaturverzeichnis
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